Geschichten:Schatten des Marschalls - Die dreiäugige Maske
Kloster Rabenhorst, Trakt der Noioniten
Wie ich ein Räuber geworden bin? Wahrscheinlich ist einfach mein Magen schuld. Überlegen Sie doch mal, wie viel ein Dreizehnjähriger essen kann. Und nun überlegen Sie weiter, wie viel dieser Dreizehnjährige besitzen mag, wenn er, als Waisenkind aufgezogen, im Alter von acht Jahren die Biege gemacht hat, weil beim Naschen eine irdene Keksdose zu Bruch gegangen ist. Nun könnten Sie argumentieren, dass die Dose Besitztum eines Traviaklosters sei und folglich sich die zuständige Traviageweihte als Ausbund an Güte und Barmherzigkeit durch ein solches Vergehen nicht aus der Ruhe bringen lassen würde.
Entweder kennen Sie die falschen Traviageweihten oder ihre Weltsicht ist ein wenig vernebelt. Ich für meinen Teil hatte damals genug von auf mir herum tanzenden Kochlöffeln, egal wie göttingefällig dieses Instrument auch sein mag. Und vielleicht hatte ich auch damals schon diesen immensen Freiheitswillen, der mich seither von jeglicher allzu großen menschlichen Nähe ferngehalten hat. Sicherlich habe ich mich zeitlebens nach einem warmen und gemütlichen Plätzchen gesehnt. Aber nicht um den Preis der Selbstaufgabe. Ich bin nicht gewillt, meine Freiheit einzuschränken, nur damit ich im Regen nicht nass werde und im Winter nicht zu stark friere. Nun, fast. Denn immerhin lebe ich nun schon seit fast einem Götterlauf in diesem schäbigen Keller, wenn ich nicht mit der Bande unterwegs bin. Aber ich habe meine Freiheit nicht aufgegeben. Die Bande braucht mich, weil sonst keiner klein und gewandt genug ist, durch Kamine oder schmale Oberlichter zu klettern und die Haustüre aufzumachen. Wer von diesen grobschlächtigen Knochen schafft es schon, eine fast senkrechte Wand heraufzukommen, indem er die mageren Finger in die Spalten zwischen den Ziegelsteinen krallt oder sich am Efeu hochzieht. Und weil wir alle das wissen, belästigt mich keiner und keiner sagt mir, was ich zu tun habe. Stattdessen gibt man mir ungefragt das an Nahrung, was ich verlange, und lässt mich in Ruhe.
Mein Lager hatte ich zuerst im hintersten Winkel des Gewölbes aufgeschlagen. Die Ruine, gelegen mitten in der goldenen Au, die über unser Versteck wacht, scheint schon alt gewesen zu sein, als die Welt geschaffen wurde, zumindest kommt es mir so vor. Wie die Bande den Einstieg in den Keller gefunden hat, weiß ich nicht, aber alles in allem ist es doch gemütlich. Vor allem, wenn der Wind wie ein lebendiges Wesen draußen um die Reste des Turms heult.
Gemütlich sage ich, aber ich muss gestehen, dass es mir hier seit einiger Zeit nicht mehr geheuer ist. Damals, als ich noch im hintersten Eck schlief, begannen die Träume. Nein, keine solchen Träume. Nichts, das auch nur greifbar wäre. Es war, als könne ich durch die Mauer hindurch gehen, gegen die ich meinen Kopf lehnte. Und dort, in einer Kammer, die ich trotz der Dunkelheit ganz überblicken konnte, sprach diese alterslose Stimme zu mir von der Macht und den Möglichkeiten. Sie gab mir zu verstehen, dass ich schon lange kein Kind mehr sei. Ich könne alles erreichen, was ich wolle und sie werde mir den Weg weisen, mein Leitstern sein. Langsam schälte sich aus den Schatten eine verhüllte Frauengestalt und auch wenn es mir jetzt schwerfällt, es zuzugeben, so fand ich mich morgens erhitzt und schweißnass immer noch in Gedanken an diese Frau und ihren Körper. Das Verlangen, das sie in mir weckte, ging weit über alle Erfahrungen hinaus, die ich bis dahin gespürt hatte. Und je länger und häufiger ich träumte, umso heftiger fühlte ich mich mit jeder Faser meines Seins zu ihr hingezogen. Bald schon sehnte ich die Nächte und die Träume herbei mit fiebriger Erregung. Immer weiter ließ sie ihre Schleier, einen nach dem anderen fallen, und präsentierte sich mir in ihrer ganzen Körperlichkeit. Und dann, in der letzten Nacht, als ich bereits eingewilligt hatte, den Eingang zu der versteckten Kammer zu öffnen und sie jenseits meiner Träume aufzusuchen, glitt der letzte Schleier von ihrem Körper. Ich sah direkt in ihre drei Augen, fühlte unter meinen Traumhänden ihre drei Brüste und spürte, wie sich ihre Gedanken in meinen Schädel hineinschlängelten wie Tentakeln, wimmelnd, sich windend, zungengleich geschwollen und feucht.
Ich habe keine Ahnung, wie lange ich in dieser und den folgenden Nächten gerannt bin. Ich weiß auch nicht, wann ich hier angekommen bin oder was mich veranlasste, den Weg hinauf ins Gebirge zu nehmen. Irgendwann erreichte ich das Kloster und brach wohl zusammen. Ich erinnere mich nicht mehr. Als ich erwachte, lag ich in diesem Bett dort, bewacht von dem Schreibtisch, an dem ich gerade diese Zeilen schreibe, wie mir Vater Rabanus aufgetragen hat. Er meint, es würde mir sicherlich helfen, mit dem Erlebten fertig zu werden. Aber ich weiß nicht. Wenn ich meine Augen schließe, sehe ich sie wieder. Die Maske mit den drei Augen, die den Anschein erweckt, lebendig zu sein, den Körper, der mich liebkost und zugleich mit unmenschlichem Verlangen und berstender Abscheu erfüllt. Ich werde Bruder Friedhelm wohl um einen Abendtrunk bitten müssen, um wenigstens heute Nacht ruhig schlafen zu können. Aber vielleicht kann mir Vater Rabanus sagen, was ich da gesehen und gefühlt habe. Und vielleicht hilft mir das, zu verstehen, was mit mir geschehen ist.
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