Geschichten:Schimpf und Schande - Teil 1
1. Die Schande der Waldsteiner Lande
Reichsstadt Hirschfurt, Mitte Hesinde 1033 BF
Der Wind zog pfeifend und heulend durch die Gassen der Reichsstadt Hirschfurt. Die anhaltende Kälte der letzten Tage hatte den ersten Schnee des beginnenden Winters gebracht, und so waren Dächer und Straßen von einer dünnen weißen Schicht bedeckt. Mißmutig stapfte Grafschaftsrat Coswin von Streitzig j.H. durch den knirschenden Schnee, den wärmdenden Mantel eng um den Körper geschlungen. Er mochte den Winter nicht besonders leiden, allzu heiße Sommer aber auch nicht. Andererseits war an Tagen wie diesem auch nur wenig Volk in den Straßen und Gassen zugange und vertrat ihm nicht den Weg.
Hufgeklapper und das Poltern von Wagenrädern ließen ihn mit einem Mal aufmerken, und schon schnellte ein Fuhrwerk heran, das geradewegs auf ihn zuhielt. Der Kutscher auf dem Bock hatte offenbar alle Mühe, die beiden Pferde im Zaum zu halten, denen heißer Atem aus den Nüstern quoll.
Verärgert sprang Coswin zur Seite; der Vorfall war seiner ohnehin schon schlechten Laune wenig zuträglich. Derweil war das Fuhrwerk zum Stillstand gekommen; die beiden Pferde aber tänzelten noch nervös auf dem Pflaster. Eine junge Frau war vom Wagen gesprungen, tätschelte den beiden Zossen den Hals und redete beruhigend auf die Tiere ein.
»Könnt ihr nicht aufpassen?« schimpfte Coswin.
»Verzeiht, mein Herr, aber ich weiß auch nicht. Immer wenn wir hier nach Hirschfurten kommen, spielen die Biester verrückt.« Der Mann auf dem Kutschbock, der Kleidung zufolge ein einfacher Bauer, gab sich unterwürfig.
»Hirschfurt, es heißt Hirschfurt, nicht Hirschfurten«, korrigierte der Grafschaftsrat den Bauersmann, der inzwischen ebenfalls vom Wagen gestiegen war.
»Wirklich? Mein Großvater sagt immer Hirschfurten, und so halten wir es alle.«
»Nein. Es heißt Hirschfurt. Einfach nur wie der Hirsch und die Furt, wenn ihr mich versteht. Das solltest Ihr auch Eurem Großvater ausrichten, damit er auf seine alten Tage noch etwas lernt, Hesindenochmal!« Die Ungebildetheit des Landvolkes widerte Coswin an.
Der Bauer schluckte, und seine Begleiterin suchte vermeintlichen Schutz hinter den beiden Pferden. »Das will ich tun, hoher Herr«, antwortete er.
Coswin wandte sich ab und stieß um ein Haar mit einer in verschiedenste Rottöne gewandeten Person zusammen, die behände zurücksprang; dabei erklang das Klimpern diverser Schellen.
»Jetzt ist es aber gut!« Coswin schlechte Laune steigerte sich weiter, als er den Störenfried erkannte. »Ihr habt mir gerade noch gefehlt.«
»I wo, ich pflege doch nirgends zu fehlen, wie Ihr wisst.« Grüßend tippte sich der Gaukler an die Kappe; den alle nur den Roten Raupold nannten. Er galt als Hofkünstler der Gräfin, schon zu Zeiten der alten Gräfin Naheniel, doch Coswin wäre ihn gerne losgeworden; nicht nur in diesem Moment, sondern für immer. Der Narr hatte die schlechte Eigenschaft, unentwegt zu plappern, wenn man ihn ließ, und ging Coswin auch sonst zumeist gehörig auf die Nerven.
»Ist es nicht amüsant, wie die Bauerntrampel nicht zwischen hüben und rüben zu unterscheiden wissen? Hirschfurt und Hirschfurten sind doch nun wahrlich zwei verschiedene Dinge. Und die ritterlichen Pförtner hat man hier doch schon lange nicht mehr gesehen. Das nimmt einem ja die ganze Leidenschaft für das Gestech und die Kurzweil...«
Dem hochgewachsenen Grafschaftsrat platze der Kragen. »Raupold, es ist gut! Jetzt halte endlich den Mund! Ich kann den Namen Hirschfurten nicht mehr hören!«
Wider Erwarten stoppte der Gaukler seinen Redefluss, marschierte aber munter weiter neben Coswin her, der unbeirrt auf das Portal des Grafenpalas' zuhielt. »Hirschfurt, Hirschfurten, klingt doch aber eh alles gleich«, sinnierte er laut, »wahrscheinlich stammen die Hirschfurtens in Wirklichkeit von hier...«
In Coswins Innerem explodierte eine ganze Wagenladung Hylailer Feuer. Eine Faust schoß vor, doch der Narr sprang behände beiseite. Lachend lief er davon und rief noch lauthals »Hirsch, Hirschfurt, Hirschfurten«, ehe er das Röhren des Tieres nachahmte und um die Ecke des Palas huschte, welchen sie mittlerweile fast erreicht hatte.
Der Grafschaftsrat zwang sich innerlich zur Ruhe. »Wenn ich heute noch einmal den Namen Hirschfurten höre, reise ich dorthin und mache den Hirschfurten eigenhändig einen Kopf kürzer«, murmelte er, schüttelte die ersten Flocken des wieder einsetzenden Schneefalls von seinem Mantel und betrat schließlich das gräfliche Herrschaftsgebäude.
Erst als Coswin in seiner Kanzleistube angelangt war, den Mantel abgelegt und sich in seinen Lehnstuhl hatte fallenlassen, begann sein Ärger langsam zu verrauchen. Auf Anweisung seiner Schreibers, der die offensichtliche schlechte Laune seines Dienstherrn gewohnt und selbige richtig erkannt hatte brachte eine Dienstmagd alsbald eine Kanne heißen Kräutertee, schenkte dem Grafschaftsrat stumm eine Tasse ein und machte sich wortlos wieder von dannen. Seufzend erhob sich Coswin aus dem Sessel, schritt hinüber zur Anrichte an der Wand und entnahm dieser eine kleine Flasche Rallerspforter Quellwasser. Überlegend blickte er noch einmal auf das Etikett, ging zurück zum Lehnstuhl und kippte einen ordentlichen Schluck des Schnapses in die Teetasse, die auf dem kleinen Tischchen neben dem Sessel vor sich hindampfte. Dann brachte er die Flasche zurück an ihren Platz, nahm die Tasse mit hinüber zum Schreibtisch und ließ sich daran nieder, beovr er schließlich eine Schluck des heißen Getränks zu sich nahm. Der Tee rann heiß die Kehle hinunter, und der Alkohol wärmte seinen Magen und sein inneres alsbald auf. Nur die Gedanken blieben kalt, eiskalt.
Nachdenklich trommelte er mit den Fingern der Rechten auf die Tischplatte und grummelte vor sich hin. Hirschfurten, Hirschfurten... Der Name wollte ihm nicht wieder aus dem Kopf. Seit den Ereignissen von Leihenbutt war er nicht gut auf Nimmgalf von Hirschfurten zu sprechen; der Baron hatte sich viel zu wenig um seine Lehensangelegenheiten gekümmert, was schließlich das Wirken der Namenlosen Mächte in der Baronie erst ermöglicht hatte. Anstatt vor Ort zu wirken und zu walten, trieb sich der Pfortenritter aus Leidenschaft lieber auf den Turnieren des Reiches herum, anstelle seinen Lehenspflichten nachzukommen. Dass er nun auch noch das Stammlehen seiner Familie in der Grafschaft Reichsforst geerbt hatte machte die Sache keinen Deut besser, denn seitdem hielt er sich lieber in jenen Landen auf.
Es klopfte, und die Tür öffnete sich. Herein trat Meister Jendor Allensbacher, sein getreuester Gefolgsmann, der schon zu jenen Zeiten in Coswins Diensten stand, als jener nur Vogt der gräflichen Güter zu Hirschfurt war. »Eine Depesche von der Elkja von Grabenau«, sagte der Schreiber und reichte seinem Dienstherrn einen versiegelten Brief. »Hat der Landvogt per Boten an Euch weitergeleitet.«
Coswin überlegte einen Augenblick, dann erinnerte er sich. Elkja von Grabenau war die Herrin über ein kleines Wehrgut in Silz an der Grenze zu Leihenbutt, die Familie unbedeutend wie das Lehen. Was die wohl wollen mochte?
Er brach das Siegel, entfaltete den Brief und las die wenigen Zeilen; auf seiner Stirn bildete sich eine Zornesfalte. Die Ritterin bemängelte das Fehlen der ordnenden Hand des Barons von Leihenbutt und beklagte sich über Übergriffe auf ihren Hof.
»Nun?« fragte Jendor Allensbacher und blickte seinen Dienstherrn fragend an.
Jener zögerte einen Augenblick mit der Antwort. »Sagt, Jendor, hat der Leihenbutt eigentlich inzwischen einen Vogt für seine hiesige Baronie bestallt?«
Der Schreiber verneinte.
»Und das scheint man zu merken. Allem Anschein nach hat er aus der Misere mit seiner Gattin nicht einen Deut gelernt. Das Lehen verwarlost, der Pöbel lehnt sich auf, denn ist die Katze aus dem Haus, lässt sich gut mausen.« Coswin legte den Brief auf den Schreibtisch. »Wie lange ist es jetzt her, dass der vereinte Waldsteiner Adel dem Hirschfurten zur Seite gesprungen ist und dafür Sorge getragen hat, dass das schändliche Treiben ein Ende hat und die praiosgefällige Ordnung wieder hergestellt werden kann?«
Unschlüssig darüber, ob die Frage rhetorischer Natur gewesen war, antwortete Allensbacher nicht sofort. »Weit über ein Jahr«.
»Richtig, weit über ein Jahr. Ein Jahr und drei Monate, um genau zu sein. Und in dieser ganzen Zeit hat es der Hirschfurten nicht geschafft, sich um sein ureigenstes, vom Vater ererbte Lehnsland zu kümmern! Stattdessen verlustiert er sich auf Turneien, reist zu Konventen in der Weltgeschichte herum bis an den Rand des Reiches und hofiert die Tochter des Reichsforster Grafen. Und wenn er nichts davon tut gibt er sich lieber als Oberpförtner oder sitzt sich in Hirschfurten den Hintern platt!« Die Faust des Grafschaftsrates donnerte auf die Tischplatte.
»Das letzte Mal war er im Waldsteinschen, als der Höllenwall den Sertiser Pfalzgrafen in Osenbrück niedergemetzelt hat«, gab der Schreiber zu bedenken. »Und da hat er sich auch nicht mit Ruhm bekleckert.«
»Ganz recht. Er hat es doch nicht einmal vermocht, seine Untertanen vor den Söldlingen der Pulethaner, insbesonderen den marodierenden Schergen der Nebachoten zu schützen. Ein feiner Lehnsmann ist er, der Herr Hirschfurten.«
Allensbacher nickte bekräftigend. »Sein Verhalten kommt einem Bruch ds Lehnseides gleich, wenn ihr mich fragt.«
»Allerdings, da sprecht Ihr mir aus der Seele. Es wird Zeit, den Herrn Pfortenritter auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen und zur Verantwortung zu ziehen.« Coswin lehnte sich vor, stützte die Ellenbogen auf den Schreibtisch und stütze das Kinn auf die gefalteten Hände. »Hat nicht der Hirschfurten den Schroeckh vor Zeiten des Reichsverrats angeklagt?«
»Hat er. Zu Unrecht, wie wie sich bekanntermaßen herausgestellt hat. Und all diesem zum Trotz ist der Schroeckh nun auch noch Staatsrat.« Allensbachers Miene sprach Bände; Schroeckh war in seinen Augen wenig geeignet für den Posten, auf dem er nun hockte; eine Ansicht, in der er mit seinem Dienstherrn einer Meinung war.
»Und führt die Amtsgeschäfte der Königin, die als Kaiserin auf Reisen ist. Ganz recht. Mir kommt da so eine Idee, die überdacht werden will. Gut Ding will Weile haben, da kommt es auf ein paar Tage mehr oder weniger auch nicht an...«