Geschichten:Simold von Pfiffenstock - Das Heerlager der Gerechten
Aranien, Gutshof Marech al'suruh, Firun 1035 BF
Die Geschichten, die ihm die Mutter aller Trommeln in Ommdablabad erzählt hatte, hallten in seinem Kopf und seinem Körper immer noch nach als er das Fahnenmeer über den unzähligen Zelten, nahe dem Gutshof Marech al'suruh, am Horizont erblickte. Das mussten mehr als 1500 Menschen dort sein, dachte Simold, dann lenkte er sein Pferd in Richtung des winterlichen Treibens vor ihm.
Er hielt kurz inne bevor er auf die Wachen an der Tür des großen Haupthauses zutrat, welches als Dreh- und Angelpunkt für das Heer der Gerechten diente. Hier, hatte man ihm gesagt, würde er den Führungsstab und somit auch seine Schwester Ariana finden, die er das letzte auf ihrer Hochzeit gesehen hatte. Seit dem hatte sich in ihrem Leben sehr viel verändert. Simold atmete durch, dann machte er einen Schritt aus dem Gewirr des Vorplatzes heraus, vor die Wachen.
„Simold, mein Blut, mein Bruder…“, völlig überrascht fiel Ariana ihm um den Hals und küsste ihn zärtlich auf die Wangen, „Was machst du hier? So kenne ich dich ja gar nicht, so ganz ohne Anmeldung…“ Sie sprach auf Nebachotisch mit ihm, was sie oft taten wenn sie alleine waren, allein weil es ihm leichter fiel und es ihn nicht so schnell in Rage brachte.
„Ja, liebste Schwester, ich weiss. Mich treibt auch eher der Zufall hier her und die Suche nach Vertrautheit und Rat.“ Simold löste sich schnell und seltsam widerspenstig aus der Umarmung, obwohl er nicht wollte, sehnte er sich doch nach ihrer Nähe, aber sie war jetzt eine verheiratete Frau.
Die Meisterin des Heeres der Gerechten stutzte und setzte einen besorgen Blick auf und beschaute sich den Mann vor ihr genau. Es war eindeutig ihr geliebter Bruder Simold, doch stand er nicht da in seiner gewohnt stolzen Haltung, die ihr so an ihm gefiel. Irgendetwas bedrückte ihn sehr, das spürte sie. Mit einer einladenden Geste bat sie Simold einen Sessel an und goss ihm etwas von dem frischaufgebrühten Tee ein, der auf ihrem Arbeitstisch bereit stand. „Erzähl.“ Nur ein Wort, eine Bitte. Sie wollte seinen Gedanken den Raum gönnen, den sie benötigten.
Simold nahm einen Schluck und genoss den vollen Geschmack des gesüßten Tees auf seiner Zunge. Er suchte nach seiner Konzentration und Bestimmtheit, die ihn sonst ausmachten. Als er sie nicht fand senkte er sein Haupt und zwang sich zur inneren Ruhe, atmete durch. „Nun, Ariana, Kind von gleichem Blute, meine Schöne, seit längerem plagen mich Gedanken und Träume, die mir sagen, dass die Zeit sich wandelt. Und dass diese neue Zeit auch mir eine andere Aufgabe zugedacht hat. Ich weiß nur nicht, welche das sein soll?! Ich bin ein anerkannter und mächtiger Mann, Marben han Hassal’han und Al'Hatim aller Nebachoten, Bruder der Heermeisterin der Gerechten, und ich bin geritten mit den neun Stämmen der Babur Nebachosya. Doch füllt mich dies nicht mehr aus. Und ich suche nach Antworten auf Fragen, die ich nicht kenne. Ich habe meditiert und gebetet, ich habe die Mutter aller Trommeln aufgesucht, Ariana, dort wo ich dieses Gefühl das erste Mal gespürt habe. Doch taten sich mir nur noch mehr Rätsel auf. Die Götter stellen mich auf eine harte Probe, die härteste meines Lebens, und diesmal weiß ich ihr nicht zu begegnen. Ich bin ohne Säbel oder Schild, denn meine Gaben helfen mir hier nicht weiter, geliebte Schwester“, Setze er das Gespräch ebenfalls im zackigen, nebachotischen Tulamidya fort.
Fürsorglich sah Ariana ihren Bruder mit ihren grünen Augen an und widerstand dem Wunsch, Simold in den Arm zu nehmen oder ihm durch sein braunes Haar zu streichen. „Ich verstehe deine Sorgen, Bruder, Blutsgefährte von Kindheit an. Auch mir offenbarte sich eine neue Zeit mit neuen Aufgaben. Ein Heer soll ich leiten, ich, eine Tochter der Schriften und der Sagen. Auch ich fühlte mich dem nicht gewachsen und fühle es immer noch nicht, doch sieh wie das Heer der Gerechten erblüht, in Aufrichtigkeit und Größe. Und wenn ich einem das Selbe, nein, noch größeres zutraue, dann dir - Simold.“ Aufmerksam beobachtete sie ihn, nahm ebenfalls einen Schluck Tee und ging dann hinüber zu einem kleinen Regal, in dem sich einige Fibeln und Papierrollen befanden. Sanft strich sie mit den Fingern über die Rücken der Bücher, bis sie fand wonach sie suchte und zog eine der Fibeln hervor. Noch während sie wieder zu Simold herüber kam schlug sie, sehr bestimmt, eine Doppelseite auf.
Sie legte das offene Buch vor ihren Bruder auf den Tisch. „Das ist die Geschichte von Nezahet Al'Fatash, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte ein neues Wort für die Welt zu finden. Ein Wort das groß genug war um die Welt, die Götter und alles was sie verbindet zu vereinen. Aber fein genug um auch das zarteste Wesen in der Schöpfung nicht zu erdrücken. Nezahet war ein weiser Mann und was er nicht an Weisheit hatte, dass machte er durch Mut und Feqzens Schläue wieder gut. Doch als er schließlich die Welt benennen konnte, wurde er traurig. Das Wort war perfekt und die Götter und Menschen jubelten und klatschen Beifall. Aber er hatte seine Aufgabe verloren und die Welt kam ihm sinnlos vor. Dies konnte die Göttin der Freude und ihre ewigjunge Schwester Tsa nicht mit ansehen. Sie fragten Nezahet nach dem Grund für seinen Kummer. Er stand der Schönen und der Jungen Rede und Antwort. Sie lächelten, gaben ihm einen Kuss und sprachen: „Nezahet, unser guter, lieber Nezahet. Deine Aufgabe ist nicht beendet, sie hat gerade erst begonnen. Denn du hast zwar das Wort gefunden, welches die Götter und die ganze Schöpfung in nur einer Silbe benennt, doch ist die Welt seit dem nicht mehr dieselbe. Ein neues Wort musst du suchen, denn die Welt ist stetig im Wandel und bedarf der ständigen Bewunderung, so dass man ihrer nicht überdrüssig wird. Also gehe hin, sinnlich-schöpferischer Nezahet, und benenne die Welt neu.“ Nezahet war geküsst von der Idee für einen neuen Namen und er holte seine alten Schriften hervor und studierte sie, um darüber nachzusinnen, welchen Weg die Welt seit ihrer Benennung gegangen war. Und er fand ein neues Wort für die neue Welt, die abermals ein neues Wort brauchte. Er schuf Namen um Namen, einer herrlicher als der andere, und füllte Bücher um Bücher mit ihnen. Und als die Götter ihn schließlich, am Ende einer langen Reihe, zu sich riefen, hatte er tausende von Büchern mit den allerstrahlendsten Namen beschrieben und ward zufrieden, aber müde und begab sich gerne unter die Götter, bereit sein Erbe seinen Nachfolgern zu hinterlassen.“
Ariana schloss die Fibel und Simold sah zu ihr auf. „Ich verstehe, geliebte Ariana, du hast ein weiteres Mal bewiesen, warum du eine der Weisesten der Babur Nebachosya bist. Ich fühle mich von einer Idee geküsst und empfinde sie nicht länger als Bürde. Ich werde meinen Weg gehen, und er wird mit jedem Schritt würdevoller und strahlender sein und man wird lange von Simold han Fir’Enock, dem Wegbereiter, sprechen.“ Überschwänglich nahm er seine Schwester in den Arm und für einen kurzen Moment fühlte es sich wie früher an …
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