Geschichten:Teurer Manegold - Ein düsterer Traum
Zu Sankt Quelban in Luring, 14. Praios 1012 BF
Verehrter Lehrer und Freund, teurer Herr Manegold,
mein erstes Schreiben, das ich aus diesen Hallen senden werde, richte ich an Euch, dem ich so viel verdanke. Eure Unterweisungen, Eure Strenge und Euer ahnungsvolles Lehrerherz haben mich erst dazu befähigt, diese meine neue Stellung hier anzutreten und sie in SEINEM Glanze auszufüllen und nach bestem Wissen und akkuratem Handeln unserem HERRN keine Schande zu bereiten. Denn ich bin nur ein Mensch, und ich fühle wieder dasselbe Gefühl der Unsicherheit angesichts so vieler neuer Dinge, neuer Gesichter, neuer Herausforderungen. Aber ich fühle in mir auch die Stärke, mich diesem allem zu stellen, weil Ihr es ward, der in mir die Stärke entdeckt und geformt hat, die benötigen werde.
Ihr stammt von Hier, als wie auch ich, verehrter Manegold, und ich habe alles recht wohl vorgefunden. Zwar war meine Vorgängerin, möge sie in SEINEM Lichthaus wandeln, im Alter milde und mit den Priestern und Mönchen nachsichtig geworden, aber ich kann mich über meine kleine Falkenbrut im Tempel Sankt Quelbans nicht beklagen. In der Stadt hingegen sieht es übel aus. Kloster und Tempel haben viel an Einfluss und Stellenwert verloren, und ich werde all mein Können und vielleicht sogar das politische Gewicht meiner Familie einsetzen müssen, um hier für Ordnung zu sorgen. Mit SEINER Unterstützung aber mag es mir gelingen, dieser Stadt wieder Demut und Götterfurcht zu bringen – ich sehe, wie Ihr nun die Augenbrauen zusammenzieht, da Ihr dies lest, treuer Lehrmeister. Seid und unbesorgt: Ich will versuchen, selbst demütig und götterfürchtig zu bleiben.
Heute sprach ich mit Herren des Rates. Sie sind recht widerborstig, ihren Zehnten in voller Höhe zu zahlen. Einer von ihnen, der am lautesten schrie, weil er zu den reichsten gehört, ist Sigbert Berdis. Er hat mir unverhohlen gedroht und mit des Grafen Einfluss argumentiert, als hätte er dessen Ohr. Ich fürchte meines Vetters Macht nicht, aber ich wundere mich. Ich hoffe, er ist so ehernwert, wie man sich in der Stadt erzählt. Ich habe ihn in meinen langen - viel zu langen! – Rommilyser Jahren nicht getroffen, also eigentlich nicht, seit Onkel Rondger gefallen war. Wie dem auch sei, teurer Manegold, ich werde den Rat lehren, was dem Tempel des Götterfürsten an Respekt und Zehnten zusteht, und der Rat wird folgen.
Gestern nahm ich den Novizen des Tempels erstmals die Beichte ab – sie sind alle ungezogene Lümmel und Gören, wie sie alle in dem Alter eben sind. Doch eine ist unter ihnen, in der ich SEINEN Glanz spüre. Sie wirkt zerbrechlich, als wäre ihr eine Kraft eingegeben, die der Körper nicht ertragen kann. Erst siebzehn Jahre alt, hat sie doch schon Wunder gewirkt und ist in SEINEM Licht gewandelt. Sie beichtete von einem wiederkehrenden Traum, den sie nicht deuten kann und den sie für eine Strafe für ihre unreinen Gedanken hält. Da nichts Unreines in ihr ist, erscheint mir dieser Traum bedeutsam und mahnend: Sie träumt von einer Schwarzen Flut, die von den Bergen herab gespült werden wird, die mitreißt, was an den Gestaden der Flüsse lebt und gedeiht, und die sich endlich auf eine große Stadt in der Ebene stürzen wird, um sie zu verschlingen. Ich mache mir noch keinen Reim auf diesen Traum, doch werde ich mich mit meinen Priestern beraten und das Omen zu deuten versuchen. Lasst mich auch an Eurer Weisheit teilhaben, edler Manegold, falls Ihr mir bei der Deutung behilflich sein könnt. Derzeit fürchte ich, dass der Traum etwas mit dem Krieg der Orken im Svellttal zu tun haben könnte, doch kann ich mir kaum vorstellen, dass Sorge um Greifenfurt – vielleicht die Stadt Greifenfurt? – bestehen kann. Ich werde mich weiter mit der Novizin, sie heißt Halva Selissa, befassen und zu ergründen versuchen, welche Botschaft ihr die Götter senden.
Am Tag des Schwures, am 5. Rondra, werde ich meine feierliche Inauguralzeremonie bestreiten – der plötzliche Tod meiner Vorgängerin am Tag des Greifen setzt keinen besseren Termin. Der Wahrer der Ordnung wird anwesend sein und auch Graf Danos und die ganze Familie. Es würde mich freuen, auch Euch unter den Gästen begrüßen zu dürfen, wenn Eure Plfichten in der Stadt des Lichtes es erlauben.
Bis dahin verbleibe ich ergebenst, die Fehler meines jungen und dummen Schreibers entschuldigend, ganz in Treue zu Euch und mit den Segenswünschen PRAIOS’ des Gerechten als
Euer
Praiodan von Luring
Designierter Vorsteher des Tempels Sankt Quelban zu Luring.