Geschichten:Tränen und Trost
Das Recht des Älteren – Tränen und Trost
Burg Luringen: Nimmgalf begab sich gerade zu seinem Schlafgemach, als er ein leises Schluchzen vernahm. Als er bemerkte, dass dies aus Irnfredes Zimmer kam, beschleunigte er seine Schritte. An der Tür angekommen klopfte er an. „Irnfrede?“
Stille. Schluchzen.
„Ich bin’s, Nimmgalf. Kann ich reinkommen?“
Nur Schluchzen.
Nimmgalf öffnete vorsichtig die Tür und fand seine Stieftochter völlig in Tränen aufgelöst in einer Ecke auf ihrer Bettstatt sitzen. Sie hatte die Beine angewinkelt an sich herangezogen, in den Armen hielt sie eine Stoffpuppe umklammert.
„Ich … habe nicht herein gesagt“, schluchzte sie. Immer noch liefen ihr Tränen über das Gesicht.
„Aber Irnfrede, Kind, was ist denn nur los? Warum weinst Du denn so bitterlich?“ Nimmgalf ging langsam auf sie zu und setzte sich zu ihr auf das Bett.
Sie drehte den Kopf zur Seite. Offenbar hatte sie großen Kummer.
Nimmgalf rückte noch ein Stück näher an das Mädchen und nahm sie behutsam in den Arm. Er spürte wie sie ein wenig zitterte. „Was ist los, Kleines? Mir kannst du es doch sagen, hm?“
„Es … es ist wegen diesen … diesen Leuten aus Gareth … Onkel Dregos Freunde … Sie haben gemeine Dinge über mich gesagt.“ Nimmgalf wurde hellhörig. Wieder kamen Irnfrede die Tränen.
„Ach, da drückt der Schuh. Ich verstehe. Erzähl mir doch einfach was sie gesagt haben, ja?“
„Ich … war gerade im Stall … bei meinem Pony, als ich bemerkte, dass es schon spät war. Ich wollte gerade reinkommen, da hörte ich … wie drei von Onkel Dregos Freunden über den Burghof kamen.“ Sie schluchzte. „Sie hatten bestimmt Bier oder Wein getrunken und grölten erst nur so rum. Ich habe sie eine Weile beobachtet und ihnen zugehört. Sie redeten davon, dass sie es hier immer besser fänden … und dass sie Gareth immer weniger vermissen würden. Dann redeten sie auch über dich … und über mich … und unsere Reise nach Albernia. Und der eine sagte dann: Kein … kein Wunder, dass der albernische Prinz die Kleine Rotzgöre nicht haben wollte. Die hat ja auch viel zu … viel zu kleine …“ Sie blickte kurz an sich herab, dann brach ein ganzer Schwall Tränen hervor. Sie vergrub ihr Gesicht weinend in Nimmgalfs Brust, während er sie sanft an sich drückte und ihr behutsam über das goldene Haar strich. „Und dann bin ich … bin ich einfach weggelaufen.“
„Schhhhh, es ist schon gut. Red nicht weiter, mein Kind.“
Innerlich kochte Nimmgalf vor Wut, doch ließ er es sich vor Irnfrede nicht anmerken. Es dauerte eine ganze Weile bis Irnfrede sich beruhigt hatte und wieder ansprechbar war.
„Wer hat das gesagt? Kennst Du seinen Namen?“
„Ich … weiß nicht genau. Es war bestimmt dieser Rudon oder Rugon. Er hat so einen dunklen Bart und dunkles Haar. Ich sehe ihn oft bei Onkel Drego.“ Nimmgalf nickte. Er hatte genug gehört.
„Ich werde diesen Mann bestrafen für das, was er gesagt hat, das verspreche ich dir“, flüsterte er ihr ins Ohr.
Irnfrede sah ihn mit ihren großen blauen Augen an und wischte sich eine Träne ab. „Wirklich? Aber er ist doch Onkel Dregos Freund. Und der wird das doch sicher nicht zulassen, oder?“
„Irnfrede, höre mir bitte gut zu: Du bist eine von Hirschfurten ebenso wie eine von Luring. Du trägst zwei stolze Namen, die mit großem Ruhm und mit Ehre verbunden sind. Niemand – egal wer es ist – beleidigt unsere Ehre, und bleibt ungestraft.“ Irnfrede nickte nur und schluchzte.
Eine Weile schwiegen sie, während Nimmgalf sie im Arm hielt. Langsam beruhigte sie sich.
„Glaubst Du … glaubst Du, dass ich jemals einen Mann finden werde? Also einen der mich liebt, und der mich auch glücklich macht? Und das um meinetwillen und nicht nur weil ich Großvaters Enkelin bin?“
Sie sah ihn traurig an. Eine Träne kullerte über ihre Wange.
Nimmgalf wusste zunächst nicht, was er sagen sollte. Er wischte ihr die Träne ab. „Aber ... aber natürlich wirst du das, mein Kind. Schau dich doch nur an: Die Herrin Rahja hat dich so reich beschenkt. Mit Anmut, Liebreiz und so viel Leidenschaft. Du bist ein ganz wundervoller Mensch, und nicht mehr lange, dann werden sich die jungen Burschen drum reißen, dir den Hof machen zu dürfen. Das verspreche ich dir.“
„Wirklich?“
„Ja, Irnfrede. Und ich werde immer für dich da sein, solange ich lebe. Als ich vor drei Götterläufen deine Mutter ehelichte, habe ich dich als meine Tochter angenommen, und bislang habe ich es keinen Tag lang bereut. Das schwöre ich dir bei den Göttern.“ „Hab Dank … Vater.“ Sie drückte ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
Jetzt war es Nimmgalf, der mit den Tränen kämpfen musste. Irnfrede hatte ihn Vater genannt. Zum ersten Mal.
Sein Aufbruch gen Hirschfurten würde sich noch ein wenig verzögern. So viel stand fest. Auf jeden Fall musste er die Sache mit Ederlinde besprechen. Noch heute.
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