Geschichten:Tsapfauenauge - Erkenntnisse
Als die schlafende Schönheit erwachte und sich einige Haarsträhnen aus dem Gesicht wischte, wurde ihr langsam wieder gewahr wo sie sich befand. Das Madamal stand erhaben und in seiner vollen Pracht am Firmament. Sein silbernes Licht beschien die Lichtung und tauchte diese in einen Hauch, aus dem Märchen und Legenden geboren werden. Es flogen keine Schmetterlinge mehr, alle waren irgendwo gelandet und deren Flügel glitzerten in dem Licht wie Kristall. Als Tsaiana sich vorsichtig umdrehte, verschlug es ihr zum wiederholten Male den Atem.
Direkt vor ihr auf dem Hügel war eine Blume erblüht, die zuvor mit Sicherheit nicht da war. Sie wuchs im direkten Licht des Madamals, und ihre mondsilberne Blüte war gerade dabei sich zu öffnen. Nicht nur der Mensch hielt unbewusst den Atem an, auch der Wald um sie herum schien auf diesen erhabenen Moment zu warten. Diesen Anblick würde sie nie wieder vergessen. Als sich die filigranen Blütenblätter öffneten, durchströmte die Lichtung das Gefühl purer Harmonie. So friedlich und mit nichts zu vergleichen, was sie je gespürt hatte. Es ist an der Zeit. Sharsiámaa hatte sich auf ihrer Schulter niedergelassen. Gib dein Blut. Ohne zu zögern zog Tsaiana ihren Dolch, der in ihrem Stiefelschacht steckte und schnitt sich über die Handfläche. Rotes Blut tropfte auf den silbern schimmernden Boden und wurde sofort aufgesogen. Und bei ihrem nächsten Atemzug vernahm sie den Duft der Blüte. Der Madablüte. Und ihr wurde Erkenntnis geschenkt. Sie verstand. Es war an ihr. Ein Wächter, ein Hüter, ein Krieger, ein Führer. Das war ihr Teil. Und das Land würde das Seine tun. „Danke.“ Hauchte sie in den Wind, der ihre Worte durch den ganzen Wald trug. Der König der Tsapfauenaugen schien anerkennend zu nicken, sofern ein Schmetterling dies kann. Dann schüttelte er seine Flügel, und die zarten Schuppen, die wie unzählige kleine Diamanten im Licht des Madamals tanzten, legten sich auf den Schnitt in ihrer Handfläche. Als ein Windhauch darüberstrich und die Schüppchen zum neuerlichen Tanz aufforderte, war die Wunde verschwunden. Als wenn nie etwas geschehen ward.
Sie saß noch eine Weile andächtig da. In Gedanken versunken. In Erinnerungen. In Visionen. Irgendwann wurde der Himmel heller und der Herr Phex sammelte seine Schätze vom Mantel der Nacht, damit das Auge des Herrn Praios sie nicht sehe. Das Madamal verblasste und mit ihm verging die Madablüte. Es ist an der Zeit. „Werden wir uns wieder sehen?“ fragte die junge Adlige und die Antwort war in Ihren Gedanken. Sie lächelte glücklich. „Bis bald, König des Waldes.“ Bis bald, Herrin des Landes. Mit diesen Worten drehte sich Tsaiana von Waldfang-Angerwilde, Baronin von Waldfang, um und folgte der Quelle des Tsadels flussabwärts.
Wie der Tag vollständig anbrach, war sie tatsächlich schon am Waldrand angelangt. Warum dies so schnell ging, war ihr egal. Sie wusste, von nun an würde der Wald sie immer willkommen heißen. Sie trat heraus in das helle Licht des Herrn Praios und genoss die warmen Strahlen, die den letzten Tau auf der Wiese vor dem Tannforst verdunsten ließ. Sie suchte kurz nach ihrem Pferd und sah den prachtvollen Apfelschimmel friedlich grasend weiter mittig auf der Wiese. Sie pfiff und das gut ausgebildete Tier kam prompt zu seiner Herrin. „Dann wollen wir mal, Silberschweif, auf zur Burg. Ungulf macht sich sicher schon Sorgen und es gibt einiges zu tun. Und er wird überrascht sein, was ich ihm zu sagen habe.“