Geschichten:Tsas Tränen - Verstärkung aus dem Süden I
Ragatien, Anfang Hesinde 1030 BF
Der Wind, der Anselm ins Gesicht blies, war ihm nicht unwillkommen, hatte sich der Ritt nach Süden doch als beschwerlicher erwiesen, als erhofft. Da er kein Aufsehen erregen wollte, hatte er die bequeme Reichsstraße gemieden und stattdessen die Grenze nach Almada auf kleineren Pfaden am Rashtulswall überquert.
Anselm schmunzelte. Noch vor ein paar Jahren, als er am Hof in Rommilys darauf hoffte, Brosamen vom Tisch der Mächtigen aufzuklauben, hätte ihn eine solche Reise wirklich mitgenommen. Aber die letzte Zeit hatte viele derartige Botenritte für ihn bereitgehalten. Ja, dem Namen nach mochte er Baron sein, aber eigentlich war er nichts weiter als der Bote seines Herrn, des Grafen Geismar II. von Quintian-Quandt. Sie waren verwandt, Onkel oder Cousins entlegenen Grades. Anselm hatte schon nachgeforscht, wie man es genau zu nennen hätte, aber die Kopfschmerzen, die das verursacht hatte, waren umsonst gewesen, denn er hatte das Ergebnis schon wieder vergessen. Es war ja auch nicht wichtig.
Wichtig war, dass er weiterhin das Vertrauen des Grafen besaß und dieser nicht merkte, wie er, Anselm, der Flüchtling aus dem Warunkschen, langsam die Zügel übernahm. Eines Tages würde der kinderlose Geismar gen Boron gehen. Kinderlos würde er bleiben, dafür zu sorgen war Anselms geringste Sorge. Und dann würde wieder der Zweig Phexanias und Helmarius' die Geschicke der Grafschaft lenken. Wenn, ja wenn nicht zuvor die Hartsteens ihnen einen Strich durch die Rechnung machten.
Dieser Gedanke führte ihn zu seinem Auftrag zurück. Die Hartsteens sammelten ihre Truppen. Zwar versuchten sie es zu verbergen, aber so blind konnte niemand sein, es zu übersehen. Ebenso offensichtlich war das Ziel ihrer Angriffsvorbereitungen: der entscheidende Schlag in der Natterndorner Fehde, in dem ihre beiden Häuser innig verbunden waren. Gewiss, als das feige Pack erkannt hatte, dass seine Bemühungen nicht unbemerkt geblieben waren, hatten sie beteuert, es ginge um die Beruhigung der Ausläufer der Wildermark. Anselm lachte innerlich. Dieses Märchen hätte wohl nicht mal Geismars allzu gutmütige Mutter, die verstorbene Gräfin Thuronia, geglaubt.
Nein, es war völlig klar, dass der Feind einen Schlag vorbereitete. Also brauchte man Verstärkungen. Bisher hatten sie vor allem auf Söldner aus Nostria und Andergast gesetzt. Die waren billig, aber erfahren. Doch die Kämpfer aus den Streitenden Königreichen hatten zwei große Nachteile. Sie hatten eine weite Anreise und man konnte sie nicht flexibel einsetzen, weil man immer darauf achten musste, dass sich Nostrier und Andergaster nicht begegneten. Horasische Söldner hätten sich jetzt angeboten. Immerhin war, sofern man den Meldungen trauen durfte, der Thronfolgekrieg dort gerade zuende gegangen. Aber das Horasreich war fern, und der Feind war mit seinen Vorbereitungen schon zu weit fortgeschritten, als dass man das Risiko hätte aufnehmen können, so lange zu warten. Also musste es eine Verstärkung sein, die fast sofort bereitstand. Und die konnte nur aus Almada kommen.
Anselm gefiel das gar nicht. Er hatte Geismar immer wieder auf die Notwendigkeit hingewiesen, sich angesichts der längeren Tradition der Hartsteens als tugendhaft und ritterlich zu präsentieren. Immerhin konnte man darauf verweisen, dass der Gegner im Jahr des Feuers dem Reich die Heerfolge verweigert hatte. Jetzt aus dem abtrünnigen Almada Truppen heranzuholen, konterkarierte die Bemühungen, Luidor von Hartsteen als feigen Verräter dastehen zu lassen. Aber Kämpfe wurden immer noch von Schwertarmen gewonnen und nicht von Meinungen. Und so hatte Anselm schließlich seine Bedenken hintangestellt. Immerhin konnte man vielleicht wieder einmal Verbündete auch für seine ganz privaten Ziele finden.
Mit diesen Gedanken folgte der Baron zu Hutt der Biegung des Tales, wo er des Zieles seiner Reise ansichtig wurde. Entlang einer Straße, die rund um einen Hügel zu dessen Spitze führte, krallten sich Steinhäuser in die Flanke des Berges. Der Weg endete vor einer kleinen Burg, die oben über Ortschaft und Tal thronte. Es mußte sich um den Ort Aracena handeln, den man ihm beschrieben hatte. Er lenkte sein Pferd auf den steilen Pfad um den kleinen Berg, beobachtet von den erstaunten Einwohnern des Ortes. Der Weg führte ihn direkt auf die Kuppe des Hügels vor das Tor der Festung, die im wesentlichen aus einer starken Mauer und einem Turm am Tor bestand. Außerhalb der Mauern neben der Burg konnte Anselm die Zelte und Holzhütten eines Lagers von Mercenarios sehen, die anscheinend im Burghof keinen Platz gefunden hatten. Zwei mit Hellebarden bewaffnete Wachen in grünweißen Wappenröcken hielten ihn am Tor an und fragten nach seinem Begehr.
„Aus Hartsteen, im Auftrage Graf Geismars sagst Du?“ Fragend sah Boraccio zu dem jungen Soldaten, der in sein Arbeitszimmer gekommen war, um den Besucher zu melden.
„Ja, Capitan. Er möchte mit Euch sprechen.“
„Führ ihn die Halle, Balbo. Man soll Wein herbeischaffen und etwas zu Essen bringen!“
„Zu Befehl, Capitan!“ Der Junge salutierte und eilte davon.
Der Junker erhob sich von seinem Stuhl und zog sich die kurze Jacke an, die über die Lehne hing. Während er die Jacke zuknöpfte, drehte er sich zu seinen Sergeanten, mit dem er sich vor der Unterbrechung besprochen hatte. „Dann wollen wir uns mal fein machen für unseren Besuch. Scheint so, als ob wir demnächst was zu tun bekommen, Jacopo.“
Der Angesprochene hatte sich ebenfalls erhoben und runzelte die Stirn. „Hartsteen? Warum sollen wir ausgerechnet über die Grenze nach Garetien ziehen? Gibt es hier nicht genügend zu tun?“
„Irgendwo her muss das Geld für die Leute ja kommen, und dass wir diesen verdammten Ferkinas das geraubte Vieh nicht wieder abjagen konnten, macht es nicht eben besser. Für tote Bergräuber gibt es zwar Ruhm, aber kein Geld in die Kasse. Und seit bei den Horasiern die Waffen schweigen kann man dort unten auch nicht mehr viel verdienen. Im Norden dagegen, bei den Garetiern, da ist noch Gold zu holen. Dom Ludovigo macht schließlich auch gute Geschäfte mit den Nordmärkern.“
Die Beiden waren mittlerweile in die Empfangshalle gelangt, wo dienstbare Geister das georderte Essen bereitgestellt hatten.
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