Geschichten:Turm auf Dame - Neugier, Anmaßung und Fahrlässigkeit
Baronie Perrinmarschen, Gut Marschenhof, 29. Travia 1036 Bf
Mit schneidigem Schritt verließ Aldron von Firunslicht das für offizielle Empfänge benutzte Arbeitszimmer des Marschenhofs. Seine Miene spiegelte die Sorge wieder, die alle Bewohner im Umkreis der Altgräfin verspürten, seitdem das Gerücht die Runde machte, dass durch Sabotage des Feindes einer der Wehrtürme der Arveburg Angareth eingestürzt war. Vereinzelte Stimmen mutmaßten bereits eine bevorstehende Invasion des Erzfeindes Haffax, die sich auf diese Weise ankündigte.
Timor von Alxertis schaute dem erfahrenen Veteranen hinterher, zählte in seinem Geiste langsam bis sechsundsechzig und schlenderte gemächlich zur Tür, die Firunslicht einen Spalt breit hatte offen stehen lassen. Die Altgräfin stand am weitgeöffneten Fenster und blickte nachdenklich über den langsam in Herbstfarben übergehenden Park, wo gerade eine ganze Kolonne Angestellte damit beschäftigt war, die feinen Marmorfiguren der Hesinde-Gruppe in Holzverschlägen vor Firuns eisigem Hauch zu schützen. Gerade sargte eine stark untersetzte Gärtnerin den verklärt ins Nirgendwo blickenden Nandus ein.
»Es ist eine Schande, dass Schlunder Marmor so anfällig für Frost ist«, bemerkte Alxertis unbefangen, »sonst könnten wir das Erleuchtungsfest unter freiem Himmel im Kreise der Heiligen Familie feiern.«
Rimiona nickte langsam, ohne zu antworten. Diese Reaktion reichte aus, um ihren Ratgeber in höchste Alarmbereitschaft zu versetzen. Wenn der Al’Anfanerin der Sinn fehlte, eine eloquente Entgegnung auf eine dahingeworfene Bemerkung zu machen, dann musste etwas Ernstes vorgefallen sein.
»Steht es so schlimm um den Arvepass?«, fragte Alxertis mit leiser Stimme. Die wenigen beunruhigenden Nachrichten, über die sie bisher auf Perrinmarschen verfügten, hatten sie vor wenigen Tagen durch einen Kurzbericht von Wallbrord von Löwenhaupt-Berg erreicht. Seitdem hatte man auf genauere Kunde gewartet.
Sich vom Fenster lösend wies die Altgräfin mit einer schlichten Geste ihren langjährigen Vertrauten an, sich zu setzen und den schriftlich verfassten Bericht des Heermeisters zu lesen, den sie ihm ohne Worte überreichte.
Die eigentliche Faktenlage war schnell zusammengefasst. Am 21. Travia 1036 BF um die frühe Mittagszeit war der Nordturm der Burg Angareth unter lautem Krachen eingefallen und blockierte seitdem den Arvepass. Der Heermeister hatte alles in die Wege geleitet, den eingestürzten Turm noch vor dem baldigen Wintereinbruch auf dem Pass abzutragen und die Stelle vorerst notdürftig verteidigungsbereit zu machen. Für die anfälligen Bauarbeiten beantragte er vor allem fähige Maurer und Baumeister, denn Steine habe es ausreichend vor Ort, ebenso sowie Steinmetze aus dem nahen Firunslichtschem Steinbruch in Edricsbruch.
Die Umstände des Einsturzes dagegen waren ungewöhnlich und sofort verstand er das spürbare Unbehagen seiner Mentorin. Firunslicht berichtete davon, dass aus den Trümmern des eingestürzten Turmes die sterblichen Überreste einer Geweihten des Nandus geborgen worden waren. Nanduriane von Falkenstein, eine Eslamsgrunderin und nahe Verwandte des Falkensteiner Barons Haduwulf von Falkenstein, war vor Ort Forschungen über den Ursprung der Feste nachgegangen.
Timor von Alxertis konnte sich sehr gut an die lange Diskussion im Vorfeld erinnern. Firunslicht hatte die Altgräfin im späten Rondramond aufgesucht, um sie wegen der Anfrage der Dornenseer Nandus-Geweihten um ihrem Rat zu fragen. Rimiona Paligan hatte zu bedenken gegeben, dass dem Dornenseer Tempel schon lange eine bedenkliche Tendenz zur Freigeisterei nachgesagt wurde, insbesondere war einst der Tempelvorsteher Roban Nando Elmenbarth ein Vertrauter von Yesatan von Eslamsgrund gewesen, dem letzten Grafen aus der Familie Eslamsgrund, welcher wegen seiner ketzerischen Ansichten zur Volksherrschaft unter Kaiser Hal abgesetzt wurde. Politisch, war die Altgräfin zu dem Schluss gekommen, wäre es gewagt, eine offizielle Kirchenbitte, und sei es einer Halbgott-Kirche, ohne triftige Gründe abzuschlagen. Rimionas Ratschlag daher war, die Geweihte zu Empfangen und genau im Auge zu behalten, was genau sie auf Angareth treibe.
Das war vor den Eslamsgrunder Aufständen gewesen.
»Wie beurteilt Ihr die Sachlage? Firunslicht hat es in seinem Bericht geschickt vermieden, eigene Schlussfolgerungen zu ziehen«, blickte Rimiona ihren Ratgeber ernst an.
»Man darf nicht vorschnell urteilen«, fing Alxertis vorsichtig an, nur um ein bestimmtes Kopfschütteln zu ernten.
»Das kann man nicht ignorieren, Timor. Ich bin selber zutiefst erschüttert. Erst gestern hat ein Bote die Nachricht gebracht, dass die Aufstände in Garetien das Leben mehrerer Geweihten gekostet hat. Es heisst, in Grafenstein habe man alle Geweihten aus der Stadt, selbst diejenigen der Gütigen Mutter, auf einem Scheiterhaufen vor grölendem Pack bei lebendigen Leibe verbrannt.«
Rimionas Stimme versagte vor Ekel und Verachtung.
»Ein klares Urteil wird stets durch heftige Gefühlswallungen behindert. Sicher müssen die Schuldigen bestraft werden, aber…«
»Wer, Timor, ist denn der Schuldige? Ist es nicht die bohrende Neugier nach Fragen, welche lieber unbeantwortet bleiben sollten? Ist es nicht die Anmaßung, dass ein in seinem Verstand begrenzter menschlicher Geist nicht nur bis in die letzten Winkel der Geheimnisse vorstoßen kann, sondern sollte? Und ist es nicht die Fahrlässigkeit, solche Suchenden gewähren zu lassen, auch auf die Gefahr hin, dass sie durch ihr Wühlen Mächte erwecken, unter deren Wüten die Menschen wie welkes Laub von einem Baum gerissen werden?«
Der Angesprochene schwieg. Er hätte entgegnen können, dass die Erforschung solcher Mächte vielleicht gegen deren Macht zu schützen vermochten, aber Alxertis war sich darüber völlig im Klaren, dass er seiner Herrin diese Antwort, zumindest jetzt zu diesem Zeitpunkt, nicht geben konnte.
»Und was wollt Ihr also tun?«
»Ich habe lange nachgedacht, Timor, ob ich nicht einen schweren Fehler begangen habe, als ich diese Nandus-Geweihte auf den Arvepass gelassen habe. Wenn das so ist, dann haben meine Entscheidungen dazu geführt, dass die Markgrafschaft einen Verlust in ihrer Wehrhaftigkeit hingenommen hat, und das ist nicht akzeptabel. Ich werde also an den neuen garetischen Cantzler schreiben und ihn über die jüngsten Vorfälle in den Trollzacken in Kenntnis setzen. Und ich werde ihm vorschlagen, dass man gemeinsam in solch schicksalhafte Zeiten auf Maßnahmen zurückgreifen muss, die den Problemen angemessen sind. Und wenn es das Verbot einer ganzen Kirche ist.«
Lautes Hämmern tönte durch das geöffnete Fenster hinein in das Arbeitszimmer. Die Diener des Marschenhofs hatten soeben damit begonnen, dem höhnisch grinsenden Xeledon sein Winterquartier zu zimmern.
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Ankunft an den Trümmern | ▻ |