Geschichten:Und der Wald schweigt – Von Feinden umgeben
Tannenwäldchen unweit von Tannhus, Peraine 1044 BF
„Nella?“, fragte Baron Drego in den Regen hinein und kam sich noch im selben Augenblick schrecklich töricht vor, denn er war es doch selbst gewesen, der das Mädchen seinem Freund Graf Drego anvertraut hatte und doch, doch glaubte er irgendwie trotzdem, dass sie da war. Und war ihr Hund Baduar nicht Beweis genug? Nie hatte er sie ohne ihn oder ihn ohne sie angetroffen. Es war doch also anzunehmen, dass auch sie hier war, oder?
„Nella?“, fragte er ein weiteres Mal in den Regen hinein. Ihm kamen noch stärkere Zweifeln. Er zweifelte an sich. An seinem Verstand. Vielleicht hatte er sich Baduar auch nur eingebildet, vielleicht war er dem frommen Wunsch entsprungen sie, das Mädchen wiederzusehen. Sie war ein nettes Kind, ein liebes Kind, ein gutes...
„Baron Drego?“, erklang da plötzlich eine bekannte Stimme, „Baron Drego?“
Wenige Augenblicke später fiel sie ihm dann auch schon in die Arme. Ihr treuer Hund Baduar folgte ihr auf dem Fuße. Der Altjachterner hielt Nella fest, drückte sie an sich während Baduar aufgeregt um sie herumtollte und sprang und sich sichtlich freute Drego wiederzusehen. Natürlich war der Baron froh, sie zu sehen, doch er war auch beunruhigt. Warum war sie nicht am Grafenhof? Was trieb sie hierher? Sie lösten sich voneinander und diese Gelegenheit nutzte Baduar um ihn einige Male eifrig, aber liebevoll über das Gesicht zu lecken.
„Du bist groß geworden“, stellte er erstaunt fest. Und auch wenn das stimmte, denn sie war in der Tat etwas gewachsen, so war sie vor allem eines: Weiblicher geworden. Doch das sagte er nicht. Das konnte er nicht. Für ihn würde sie immer das kleine Mädchen bleiben, dass er nach Luring gebracht hatte, obgleich sie inzwischen zur jungen Frau geworden war und das alles in so kurzer Zeit. Nur wenige Monde...
„Ich habe gehofft Euch zu treffen“, sagte sie und wischte sich die nahen Tränen aus den Augen, „Ich habe es so sehr gehofft.“ Sie schniefte.
Einen Moment wusste er nicht so recht, was er sagten sollte. Während er das Kind kaltherzig und aus eigensüchtigen Motiven nach Luring gebracht hatte, schien sie ihn wirklich vermisst zu haben. Und wie stand es um ihn selbst? Wie oft hatte er an sie gedacht?
„Was machst du hier?“, fragte er sie mit leiser Stimme, „Warum bist du denn nicht am Grafenhof?“
„Es ist...“, hob sie an, „... kompliziert, Hochgeboren.“ Sie nickte betrübt. „Ihr würdet mir ohnehin nicht glauben.“ Mutlos ließ sie ihren Kopf hängen und zuckte hilflos mit ihren Schulter. „Sehr wahrscheinlich würdet Ihr mir nicht recht glauben können, nicht weil ihr nicht wollt, sondern weil ihr es nicht könnt. Zumindest ich würde mir nicht glauben, wenn ich an Eurer Stelle wäre.“ Sie seufzte schwer. „Und gewiss ist es auch besser, wenn Ihr nicht mehr wisst als notwendig ist. Vermutlich ist es wirklich besser so...“
Der Altjachterner zog die Stirn kraus, wusste nicht so recht was er darauf erwidern sollte und schloss sie erneut in die Arme. Gerne hätte er ihr Mut zugesprochen, aber an diesem mangelte es ihm selbst die letzte Zeit. Nicht nur daran. Er hatte auch die Hoffnung verloren. Erst die Waldsteiner, nun die Erlenfaller...
„Wir brauchen Eure Hilfe“, hob das Mädchen an nachdem sie sich erneut voneinander gelöst hatten.
„Wir?“, fragte der Baron irritiert, zog die Stirn kraus und blickte hinter sie, doch dort war trostloser Wald erleuchtete vom tristen Licht des Madamals.
„Ich bin nicht allein“, antwortete sie ausweichend.
„Ist Graf Drego hier?“
Nun schüttelte sie energisch den Kopf: „Nein, Hochgeboren, nein.“
„Hm“, machte der Altjachterner da, „Wer denn dann?“
„Es ist wirklich besser wenn Ihr nicht mehr wisst“, versicherte sie ihm, „So müsste Ihr nicht lügen, wenn Ihr gefragt werdet.“
„Du meinst, ich muss nicht lügen, wenn Graf Drego mich fragt?“
Sie atmete schwer ein und aus: „Wir brauchen ein sicheres Versteck. Wir sind erschöpft. Wir brauchen ein bisschen Ruhe, ein vernünftiges Dach über dem Kopf und etwas Warmes im Bauch.“ Nun nickte Baron Drego verstehend: „Ein Versteck in dem ihr nicht gleich gefunden werdet. Steckst du... steckt ihr in Schwierigkeiten?“
Zaghaft nickte sie: „Irgendwie schon. Ja, ich denke, ich denke man könnte es so nennen, ich denke...“
„Was für Schwierigkeiten? Schlimme?“
Sie blickte einen Moment zur Seite, schien Hilfe zu suchen und gestand dann nickend ein: „Ja. Schlimme.“ Dann schluckte sie, holte Atem und fuhr fort: „Wir brauchen wirklich ein sicheres Versteckt.“ Sie nickte um ihre Worte zu bekräftigen. In der Tat, so stellte Baron Drego fest, wirkte sie erschöpft und auch etwas ausgezehrt.
„Ich verstehe“, meinte er da und verstand doch nicht, obgleich er begriff, dass sie wohl entweder nicht sagen wollte in was für Schwierigkeiten sie hineingeraten war oder nichts zu sagen wagte, weil die Schwierigkeiten sich doch gefährlicher darstellten, als einem jedem lieb sein konnte. „Ich... ich... ich...“, stammelte er, „Ich muss darüber nachdenken. Ich kann nicht jedem hier vertrauen. Und wenn du... ihr ein gutes Versteck braucht, kommen da nicht viele meiner Vasallen in Betracht. Ich... ich werde dir... Schwester Lindegard schicken. Ihr könnt ihr vertrauen. Aber versprechen kann ich nichts, denn auch ich stecke in Schwierigkeiten...“
Da horchte das Mädchen auf: „Schlimme Schwierigkeiten?“
„Sie haben Orknäschen“, seine Stimme brach und er musste sich die nahenden Tränen aus den Augen wischen, „Die haben Orknäschen. Sie haben sie auf Burg Rallingstein festgesetzt. Sie wollen den Baronsreif. Meinen Baronsreif. Ich kann sie aus ihren Fängen nicht befreien, ich kann Rallingen nicht belagern und selbst wenn ich es könnte, wer sollte verhindern, dass sie ihr etwas antun? Ich komme nicht an sie heran. Ich kann sie nicht befreien. Und auf ihre Forderungen kann ich nicht eingehen. Nicht nur, dass sie eine unfassbare Menge Lösegeld wollen, sie wollen auch den Baronsreif, doch wenn ich ihnen das eine gebe, dann kann ich die andere Forderung nicht mehr erfüllen. Was soll ich tun? Ich bin machtlos. Ich vermisse sie so sehr. Ich liebe sie doch. Wie soll ich ein Leben ohne sie führen?“ Erneut wischte er sich die Tränen aus den Augen. „Die Erlenfaller lauern in Erlenfall auf meinen Baronsreif und auf Scharfenstein lauern die Schwarztannener...“ Einen Moment war es still. „Scharfenstein ist nicht sicher. Ganz Schwarztannen ist nicht sicher. Und die Waldsteiner lauern nur auf den Ablauf der Frist. Ich bin von Feinden umgeben...“
„Hochgeboren?“, wehten mehrere Stimme aus der Ferne zu ihnen herüber. „Baron Drego?“, „Wo seid Ihr?“, „Geht es Euch gut?“
Er seufzte schwer: „Ich werde Euch Schwester Lindegard schicken. Vertraut nur ihr allein. Haltet euch sonst hier versteckt. Ihr könnt jagen, wenn ihr wollte. Lasst euch aber nicht erwischen. Und... und pass gut auf dich auf.“ Mit diesen Worten ging er davon, drehte sich aber noch einmal um und fügte ein „Bitte“ hinzu.