Geschichten:Verhüllter Schmerz
Die kleine Gruppe war am ersten Tag gut voran gekommen. Zuerst hatte man noch ein paar letzte Besorgungen in Rubreth getätig, und dann die Stadt in Richtung Osten verlassen. Ein paar Meilen nachdem sie Burg Rubreth passiert hatten, hatten sie bei Ährenfeld den Kaiser-Hal-Kanal passiert, der vor Jahrzehnten durch eine Initiative des Barons Erlan von Zankenblatt begonnen, aber nie fertig gestellt wurde. Wenigstens gab es hier eine stabile Holzbrücke, die auch für Fuhrwerke geeignet war. Fünf Meilen weiter östlich passierten sie dann die Grenze nach Hirschfurten. Als sie den nächsten Ort Bodenstedt erreichten, wurde es schon dämmerig, so dass man beschloss, sich ein Quartier für die Nacht zu suchen.
In Bodenstedt gab es nur ein größeres Gasthaus namens 'Zum fetten Ochsen', also fiel die Wahl nicht schwer. Man passierte den Torbogen und Kutscher Emmeran lenkte seinen Zweispänner auf den Hof des Gasthauses. Äbtissin Alrike von Sommerheide wollte sich zunächst um Quartiere für die Nacht kümmern.
Ich schlage vor, dass wir ein gemeinsames Zimmer beziehen, da können wir uns dann mit der Bewachung der Reliquie abwechseln. Habt ihr irgendwelche Einwände?" fragte sie.
Halgor wurde blass. "Wäre es nicht einfacher, gleich das ganze Fuhrwerk zu bewachen? Dann könnten wir den Gong auch gleich da drauf lassen, und würden keine unnötigen Transportschäden riskieren", schlug er vor.
"Kommt nicht in Frage!" sagte Äbtissin Sommerheide bestimmt. "Ich lasse den Gong nicht auf dem Wagen hier im Hof liegen, während ich in einem Gästezimmer schlafe. Das ist mir einfach zu riskant. Ich denke, dass ich da lieber das Transportrisiko in Kauf nehme."
"Wie Ihr wollt", seufzte Halgor.
Nachdem Alrike ein Vierbettzimmer im Erdgeschoss für die Gruppe reserviert hatte, machte man sich nun daran, gemeinsam den Gong dorthin zu verfrachten. Emmeran öffnete die Plane und kletterte auf das Fuhrwerk. Dann schob er den schweren mit einem weißen Tuch umhüllten Gong langsam an die hintere Kante.
Die kräftige Prishya stellte sich bereits auf, um ihn in Empfang zu nehmen, doch Halgor zögerte noch.
"Was ist? Nimm ihn mit an! Ich kann den nicht alleine halten", knurrte die Ritterin ungehalten.
Halgor warf ihr einen bösen Blick zu. Dann zog er Lederhandschuhe aus einer Gürteltasche und zog sie sich an.
"Dann rutscht es nicht so leicht aus der Hand!" erklärte er.
"Beeil dich!" drängelte Pryshia.
Halgor stellte sich neben sie und gemeinsam nahmen sie den schweren Gong in die Hände. Die bloße Berührung schmerzte Halgor auch durch die Handschuhe hindurch. Es war fast, als packte er ein Stück glühende Kohle an.
"Schnell! Er ist schwer!" keuchte er. Auch Alrike und Emmeran kamen hinzu, und gemeinsam verfrachteten sie die praiosgeweihte Reliquie unter einigen Mühen in ihr Gästezimmer.
Die anderen waren schon zum Abendessen gegangen, nur Halgor war zunächst im Zimmer geblieben und saß nun auf seinem Bett. Er hatte vorgeschlagen, den Gong zu bewachen und später zu essen. Seine Hände taten immer noch weh. Vorsichtig zog er die Handschuhe aus. Die Handinnenflächen waren wund und zum Teil schwarz verbrannt. Vorsichtig legte er sich einen Verband mit Heilkräutern um die Hände. Er musste irgendwie vermeiden, dieses vermaledeite Ding noch einmal anzufassen. Doch das würde nicht leicht werden, wenn er keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte. Er hatte also die Wahl sich zu verraten, oder an den Schmerzen zugrunde zu gehen. Doch vielleicht gab es noch eine Möglichkeit...
Er holte aus seiner Tasche eine dünne schwarze Kerze hervor, stellte sie auf seinen Nachttisch und zündete sie an. Es entstand eine kleine schwarze Flamme.
"Meister! ... Meister! ..." flüsterte er. Die Flamme flackerte kurz auf. "Gewähre mir Schutz... Schutz vor den verhassten Götterfeinden und ihren kriecherischen Dienern! Ich werde dir dafür ein Opfer bringen. Ein großes Opfer dir zum Wohlgefallen! Doch schütze deinen bescheidenen Diener mit deiner Macht, gib mir die Kraft dem Götterwirken zu widerstehen und mache mich so zu deinem Werkzeug der Rache!"
Eine Weile geschah nichts. Dann flackerte die Flamme heftiger, sie wurde größer, ein dunkles verhülltes Haupt bildete sich, dessen Augen tiefrot zu glühen schienen: "GEWÄHRT!"
◅ | Aufbruch vom Kloster Sonnenau |
|
Wegelagerer | ▻ |