Geschichten:Verschollen in Al'Anfa - Reisevorbereitungen
Burg Erlenstamm, 30. Efferd 1045
„Aber warum brechen wir nicht sofort auf?“ Irnfrede hatte wenig Verständnis dafür, dass die drei noch nicht aufbrechen wollten. In ihren Augen war das eine unnötige Verzögerung, sie konnte es gar nicht erwarten, Geromel endlich wieder zu sehen.
Luna beschwichtigte sie: „Ich weiß, dass du es eilig hast. Aber glaube mir bitte, momentan bist du für einen solch lange Reise noch nicht geeignet. Es fehlt dir an vielen Grundfähigkeiten, die Thorkar, Simariel und ich uns im Laufe der Zeit schon aneignen konnten.“
„Das stimmt!“ pflichtete ihr der Thorwaler bei. „Bist du schon mal länger als drei Stunden am Stück geritten?“
Irnfrede schüttelte den Kopf. „Längere Strecken bin ich für gewöhnlich in der Kutsche gereist.“
„Das wird dieses mal kaum möglich sein!“ erklärte Simariel. „Zu Fuß oder auch zu Pferd ist man wesentlich flexibler, als mit einer sperrigen Kutsche, für die feste passierbare Straßen zwingend erforderlich sind.“
„Ach, so schlimm wird das schon nicht sein. Ich reite auch mit euch, wenn es sein muss!“ gab sich Irnfrede selbstbewusst.
„Du wirst dir spätestens nach drei Tagen wünschen, wieder daheim zu sein, glaub mir!“ antwortete Luna. „Wir werden mit dir erstmal eine Weile üben. Nicht nur reiten, auch laufen, springen, klettern, ja, und auch kämpfen.“
„Kämpfen? Ich?“ fragte sie erstaunt.
„Gerade in einer so großen und unübersichtlichen Stadt, weiß man nie, was einen erwartet. Da kann es nicht schaden, wenn man weiß, wie man mit einer Waffe umgeht, wenn man sich mal verteidigen muss“, erklärte Simariel.
„Genau. Wir werden erstmal herausfinden, mit welchen Waffen du am besten zurechtkommst. Ich würde dir zu etwas leichteren Waffen raten. Vielleicht einen Langdolch oder einen Säbel“, schlug Thorkar vor. „Und etwas ringen und raufen solltest du auch können, falls du dich mal mit bloßen Fäusten wehren musst.“
Irnfrede war wenig begeistert, dass sich ihr Aufbruch noch verzögern würde. Aber im Grunde wusste sie, dass die drei recht hatten. Wenn ihre Reise Erfolg haben sollte, dann müsste sie erst an den genannten Fertigkeiten arbeiten, ansonsten würde sie riskieren, dass ihr Vorhaben scheiterte, weil sie im entscheidenden Moment versagte. Sie wollte kein unnötiger Risikofaktor sein.
Und so begann sie ihre Grundausbildung. Während sie mit einem der drei Gefährten ihre Fähigkeiten schulte, bauten die anderen den Burghof zu einem regelrechten Übungsparkour um. Es gab Hinderniswände zum Überklettern, Balken zum Balancieren, Seile zum Schwingen, Gräben zum Überspringen. Gerade Thorkar tobte sich hier so richtig aus. Simariel baute Strohpuppen in verschiedenen Größen, die als Fernkampfziele dienten. Luna übte mit ihr sich leise und unauffällig zu bewegen, schleichen, sich verstecken und sich aus gefährlichen Situationen zu entwinden. Und immer wieder unternahmen sie Ausritte. Erst kurze, dann immer länger währende, damit sich Irnfrede ans Reiten längerer Strecken gewöhnen konnte. Ritter Ernhelm überwachte stets ihre Ausbildung, erstens um aufzupassen, dass sie sich dabei nicht verletzte, und zweitens um die drei „Helden“ besser einschätzen zu können. Doch allmählich gelangte er zu der Überzeugung, dass sie der Herrin tatsächlich sehr wohlgesonnen waren. Auch wenn sie es immer wieder am nötigen Respekt mangeln ließen, was vor allem auf den Nordlandbarbaren zutraf.
Nach etwa zwei Wochen war Irnfrede körperlich enorm ertüchtigt, und im Kampf mit einem leichten Säbel geschult. Sie hatte sich in der Zeit passende Reisekleidung zugelegt, von ihren geliebten Kleidern würde sie sich für die Reise erstmal verabschieden müssen. Stattdessen trug sie nur eine Lederweste über einer Bluse und eine enganliegende Lederhose in hohen Stiefeln, die ihre Figur gut betonte.
„Na, wie gefällt es Euch?“ fragte sie lächelnd in die Runde und zeigte ihre neue Garderobe von allen Seiten in dem sie die Hüften hin und her drehte.
„Steht dir gut!“ bestätigte Luna.
„Bei Swafnir. Ich wette, mit dem Arsch kannst du sogar Nüsse knacken!“ rief Thorkar und lachte.
„Ein bisschen mehr Respekt vor der Herrin Irnfrede, wenn ich bitten darf!“ rief Rittter Ernhelm empört.
„Sonst was?“ fragte Thorkar und stellte sich vor ihn. Dabei überragte er den mit neuneinhalb Spann an sich recht hochgewachsenen Ritter um mehr als einen Kopf. Ernhelm funkelte ihn zornig an.
„Lass ihn nur, Ernhelm! Ich habe das durchaus als Kompliment verstanden. Nicht wahr, Thorkar?“ grinste Irnfrede.
„Da kannst du dein süßes Hinterteil drauf verwetten, Kleine!“
„Also schön. Ich denke, du bist jetzt so weit. Wir sollten dann morgen in der Frühe aufbrechen,“ schlug Luna vor.
Da trat Ernhelm an Irnfrede heran: „Ich werde Euch begleiten, Herrin! Bitte gewährt mir diesen Wunsch!“
Irnfrede blickte den Ritter etwas überrascht an. „Oh, das wird nicht nötig sein“, wies sie ihn ab.
„Herrin, ich bitte Euch. Wenn Euch auf Eurer Reise irgendetwas zustößt und keiner von uns war zu diesem Zeitpunkt bei euch, dann… könnt Ihr Euch vorstellen, was Euer Vater dann mit uns machen wird?“
Irnfrede überlegte. Er hatte sicher nicht ganz unrecht, und einen weiteren Schwertarm zu haben, könnte sich durchaus noch als Vorteil erweisen. Nur hatte sie ihren Rittern gegenüber immer Khunchom als Reiseziel ausgegeben, weil sie dort ein seltenes Musikinstrument, eine Zitar, erwerben wollte. Irgendwann würde sie ihm das wahre Ziel ihrer Reise mitteilen müssen: Al’Anfa. Sie hoffte sehr auf seine Verschwiegenheit, wenn es so weit wäre.
„Also gut, Ernhelm. Du kannst uns begleiten. Morgen früh brechen wir auf.“