Geschichten:Verschollene Eber - Ardos Gedanken schweifen
Anselm hatte das gesamte Schauspiel um den Knappen amüsiert verfolgt. Er war wohl wahrlich neu in Greifenfurt und auch sein Name schien auf eine entferntere Herkunft hinzudeuten. Nun überblickte er die Anwesenden erneut und musste zu seinem eigenen Bedauern feststellen, dass bislang niemand des Bundes des Garafan dem Aufruf gefolgt oder geladen worden war.
Lyeria sah forschend in Timokles' Gesicht, um sich dann Prinz Edelbrecht und Urion zuzuwenden. Der Knappe wirkte nicht ganz sicher und genau das war es, was Lyeria zu ihrer Entscheidung bewog. „Ich habe dagegen nichts einzuwenden, Euch Timokles zur Begleitung des Spähtrupps an die Seite zu stellen - seht Euch nur vor, denn er besitzt eine beinahe unstillbare Neugier!“ Das belustigte Blitzen in den Augen der Golgaritin war nicht zu übersehen. Selten zuvor hatte man sie so gelöst erlebt. „Und Du, Timokles, nutze diese Möglichkeit! Lerne!“
Ihre Hand übte einen sanften Druck auf des Knappen Schulter aus. „Und frage dem Herrn Urion nicht solche großen Löcher in den Bauch wie mir!“ Doch noch während sie die Worte sprach, kehrte plötzlich wieder der altegewohnte Ernst in die blau-grünen Augen zurück, die nun distanziert ihre Umgebung musterten. Insgeheim fragte Lyeria sich, wie es wohl im Herzen des Prinzen aussehen mochte.
„Wir werden alles tun, was in unseren Kräften steht, um Euren Bruder und seine Gemahlin zu finden und in Sicherheit zu bringen. Möge Boron seinen Raben erst in ferner Zukunft nach ihnen aussenden.“
„So sei es, bei Boron und Golgari“, murmelte Alderich neben ihr, fast zeitgleich mit dem Prinzen, über dessen Gesicht bei den Worten der Golgaritin ein Schatten gehuscht war.
Timokles war froh über die Wende des Schicksals. Er wurde nicht bestraft, sondern belohnt. Hoffentlich nutzte er diese Gelegenheit auch richtig, doch nun war sein primäres Interesse, dass er sich aus dem Mittelpunkt der Gesellschaft dränge. Also ging er einen Schritt zurück und wich hinter den Rittmeister, sodass er nur noch in zweiter Reihe stand. Dort nahm er einen weiteren Schluck und seufzte erleichtert aber gespannt, was noch geschehen würde.
Vergnügt sah Ardo mit an, wie der übereifrige Knappe von einer Verlegenheit in die nächste stürzte. Genauso erfreut war er aber auch zu sehen, wie gut sich Timokles, ein Name, an den er sich erst würde gewöhnen müssen, vor dem Prinzen aus der Affäre zog. Der Junge hatte das Herz am rechten Fleck. Wenn er die Ausritte mit Urion von Reiffenberg überlebte, so würde später sicher ein brauchbarer Mann aus ihm werden.
Schließlich wandte Ardo seine Aufmerksamkeit den anwesenden Edlen zu. Einige kannte er vom Hörensagen, andere noch überhaupt nicht. Speziell dem Junker Greifwin widmete er seine Aufmerksamkeit. Was hatte Großonkel Bogumil über diesen Mann geschimpft, ja gegeifert, als Ardo vor einigen Monden zu Gast auf Burg Keilholtz gewesen war. Dieser Kerl sei eines Keilholtz unwürdig, wie eigentlich alle aus dem jüngeren Hause, wenn man von Lucius Herdan einmal absah. Kein Stolz, keine Überzeugung, keine Meinung und wenn doch, dann die falsche. Die ganze Familie hatte an diesem Abend zu Tisch gesessen, beifällig genickt oder blöde gekichert. Ardos Cousins, die Brüder Quendan und Quanion, waren gar vor Lachen ganz außer sich geraten und als sie sich nach zehn Minuten endlich beruhigt hatten, musste ihnen ein Diener den Geifer vom Gesicht wischen und frische Hosen bringen, die sie dann noch bei Tisch gegen ihre nicht mehr ganz so sauberen Beinkleider austauschten. Sie hatten vor Freude einfach nicht an sich halten können. Wie es ihre Frauen mit ihnen aushielten, war Ardo ein Rätsel. Allerdings waren diese selbst gebürtige von Keilholtz und mehr als das eine oder andere dümmliche Lachen hatte Ardo bei seinen Konversationsversuchen nicht geerntet. Nach diesem Anstandsbesuch war ihm auch endlich klar gewesen, warum sein Vater und sein Großvater diese Familientreffen schon seit vielen Götterläufen mieden.
Plötzlich merkte Ardo, wie weit seine Gedanken gewandert waren. Zurück im Hier und Jetzt bemerkte er, dass er Junker Griefwin wohl über die Regeln der Etikette hinaus angestarrt haben musste, da dieser Ardos abwesenden Blick inzwischen erwiderte. Peinlich berührt darüber, dass seine Neugier bemerkt worden war, hob Ardo sein Glas, prostete Greifwin zu, schloss die Augen und leerte das halbvolle Glas mit einem Zug. Schnell trat er dann ans Fenster, um sich nachzuschenken und um der Situation ohne weitere Peinlichkeiten zu entkommen. Ardo straffte sich und, als er sich der Gruppe zuwandte, war er wieder die Beherrschung in Person. So gestalt trat er auf Edelbrecht zu und beugte sich in einer Gesprächspause zu diesem vor, um leise mit ihm zu sprechen.
„Mein Prinz, verzeiht mir meine Ungeduld. Es scheinen so langsam alle eingetroffen zu sein, die eurem dringlichen Ruf zu folgen gedenken. Vielleicht sollten wir dann mit der Beratung beginnen, damit wir noch vor der Nacht zu einem Ergebnis gelangen. Wenn wir morgen in aller Frühe aufbrechen wollen, sollten wir heute nicht zu spät zur Ruhe kommen. Vor allem, da einige der Anwesenden wohl eine strapaziöse Anreise hatten.“
Mit einem knappen Nicken, um seinen Vorstoß zu entschuldigen, ließ sich Ardo sodann auf den Sessel zurücksinken, auf dem er bis zum Eintreffen des Knappen Timokles gesessen hatte.
Urion trat auf Ardo zu. „Nicht so schnell, werter Ardo“, und gewandt an die Ritterin der Golgariten sagte er, „zuerst soll die Hohe Dame uns vom Befinden der Greifin, unserer Herrin, berichten, die wir alle so lange nicht gesehen haben und die wir so verehren!“
Lyeria sah dem Sprecher unverwandt ins Gesicht und spürte gleichzeitig, dass auf einmal Stille in den Reihen der Versammelten einkehrte. Man erwartete sehnlich eine Antwort von ihr. Was sollte sie sagen? Gab sie Unwissenheit vor, nahm sie den Getreuen womöglich die Hoffnung, die sie für die anstehende Aufgabe noch brauchten. Fiel die Antwort wahrheitsgemäß aus, vielleicht ebenso. Urion hatte sie auf dünnes Eis geschoben mit seiner Frage. Doch es war nicht das erste Mal, dass die Adjutantin sich auf dem Parkett der Diplomatie bewegen musste. Ohne Zögern setzte sie den ersten Schritt ...
„Werter Herr, wir Diener des Fünften lieben die Stille und bescheiden uns mit wenigen Worten. Deshalb bitte ich Euch, nehmt meine Antwort so hin: Es geht ihr den Umständen entsprechend… gut.“ Sie biss sich heimlich auf die Zunge, als sie Edelbrechts beinahe verletzliche Miene sah. „Kunde von der wackeren Greifin findet Ihr sicherlich in der Botschaft, die Euch der Rabenhorster Abt sendet, Herr.“ Jetzt war sie beinahe froh um Urions Zwischenfrage. Wegen Timokles’ Fauxpas hätte sie um ein Haar vergessen, dem Gemahl der Greifin das gesiegelte Schreiben aus Rabenhorst auszuhändigen, was sie nun schleunigst nachholte.
„Verzeiht, dass ich es Euch nicht sofort übergab“, murmelte sie etwas betreten.
Urion konnte die gespannte Stille fast körperlich spüren. Aber er hatte nichts Falsches gefragt. Wenn jemand außer Edelbrecht etwas vom Befinden der Greifin wissen konnte, dann waren es diese Golgariten, die ja vom Rabenhorster Abt ausgesandt waren. Und so atmete er erleichtert ob der Antwort der Ritterin auf. Er kannte die genauen Umstände nicht und war auch nicht auf der Praiostagsfeier des jungen Prinzen anwesend gewesen, während derer die Greifin sich zu diesem Schritt entschlossen hatte. Seinerzeit hatte er mit einem Banner der Grenzreiter im Umland des Klosters ein Gefechtsbiwak abgehalten, eine Aufgabe, derer sich sein Vater damals der Greifin nach dem Kriegsrat gegenüber verpflichtet hatte. Dort hatte er die markgräfliche Eskorte erspäht und sie ‚heimlich’ im Rahmen der Ausbildung ‚begleiten’ lassen. Erst nachträglich hatte er von seiner Frau Renzi vom Entschluss der Greifin erfahren.
Mit einer höflichen Verneigung und einem kurzen „Habt Dank!“, wandte er sich von Lyeria zu Prinz Edelbrecht, um dessen Reaktion abzuwarten.
◅ | Knapp vorbei, der Knappe |
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Wie geht es der Greifin? | ▻ |