Geschichten:Vom Hasen zum Hirsch - Krallen schärfen
Ritterherrschaft Ostbrisken 20.Travia 1042BF
„Ausfallschritt! … Stich! … Pressen! … Drehen! … Ziehen! … Zurückfallen! … Spieße aufstellen! … Fester Stand! … Pause!“
Hane betrachtete seine Kameraden. Reto, Brünni, Rico und Tello standen in einer losen, zerstreuten Reihe. Sie schwitzten und atmeten angestrengt. In den Händen hielten alle lange Holzstangen die an beiden Enden angespitzt waren. Am Kopfende hatten Hane und Carl einige Steine gebunden um Gewicht und Balancierung einer Hellebarde besser nachstellen zu können. Bis er sich echte Waffen würde leisten können, musste er noch immer auf Nachricht des Kaisermärkischen Hofes warten… und natürlich hoffen, dass seine Kalkulationen nicht als vollständig überzogen wahrgenommen wurden…
„Bei der Reihe hätte der Hauptmann uns aber allein und nackt in den Ogerbusch geschickt… Ich kann seine Spuke jetzt noch fliegen sehen, wie er den armen Sepp klein gemacht hat, weil der zwei Spann aus der Reihe gestolpert war…“ raunte Carl in Hanes Ohr.
„Okay Leute, das war schon nicht schlecht. Im Vergleich zu vorgestern habt ihr schon einiges besser gemacht. Tello, dein Zurückfallen muss genauso groß sein wie der Ausfallschritt, sonst stehst du schnell außerhalb der Reihe. Brünni, stich beherzt zu! Stell dir einen dreiköpfigen Wolf vor, der gerade nach dir, Rico und Reto schnappt – und du willst ihn auf Distanz halten, damit seine geifertriefenden Lefzen euch ja nicht zu nahe kommen! Stich! Pressen! Drehen! Tello, den Spieß nicht zu hoch stellen – ich weiß du bist um einiges Größer als die anderen, aber die Formation muss einheitlich sein. Reto, dein Spieß etwas höher.“ Hane sah die etwas resignierten Blicke seiner Kameraden. „Kopf hoch jetzt! Das ist erst die zweite Trainingseinheit! Oder hast du beim Bäckermeister Stufte etwa am zweiten Tag schon dein Gesellenstück gebacken, Tello? Lasst mich euch kurz eine Geschichte erzählen. Beim ersten Pikentraining in der Kaiserlichen Armee… Ich hatte mich als Kundschafter gemeldet und auf einmal sollte ich den Umgang mit der Pike lernen… Ich wisse nie wann wir mal von ein paar Biestern umzingelt würden, die wir besser nicht an unsere Haut heranlassen, hat unser Hauptmann immer gesagt. Als er das erste Mal >Stich!< bellte, war ich so eingeschüchtert, dass ich alles reingelegt habe in den Stich. So sehr, dass die Pike in hohem Bogen davonflog, über den Kopf vom Hauptmann und einige Schritt hinter ihm auf den Boden fiel. Bellrik II. rannte schwanzwedelnd an mir vorbei um den Spieß zu holen… Naja, was soll ich sagen? Der Hauptmann hat mich aus der Reihe geworfen, hat gesagt ich solle beim Bogen bleiben und die Viecher erschießen bevor sie nahekommen… Also hat sich Carl mit mir nach dem Training abseits des Lagers hingestellt und hat mir beigebracht, was ich wissen musste. Als einer der Kameraden einige Zeit danach mit Flinkem Difar ausfiel, füllte ich seinen Platz in der Formation, direkt neben Carl. Und da hat mich der Hauptmann nicht mehr weggelassen. Alles eine Frage der Übung Leute! Und glaubt mir, ihr habt den besten Lehrer hier, den ihr kriegen könnt!“ Mit einem zuversichtlichen Nicken und einem kräftigen Klapps auf die Schulter Carls, wandte Hane sich ab und überließ dem Hünen das Trainingsfeld. Hinter ihm erschallten nun die Kommandos des Schmieds, gefolgt von diesem unvergleichlichen Lachen, das Hane immer ein Gefühl absoluter Sicherheit vermittelte…
„… du hast ihnen doch nicht etwa von deinem Pikenweitwurf erzählt?“ fragte Magnus amüsiert und ahmte die Bewegungen nach, die Hane beim Erzählen der Geschichte gemacht hatte.
„Doch, das habe ich.“
„Wie willst du jemals Autorität über diesen Haufen hier gewinnen?“ Magnus‘ Stimme war von Zweifel erfüllt.
„Ich setze mehr auf Gemeinschaft als auf Autorität bei diesem >Haufen<! Ich kenne die vier teilweise seit Kindertagen, glaub mal nicht, dass sich durch den Adelstitel jetzt auf die Schnelle etwas ändert. Wenn sie die Methoden und vor allem die Ziele verstehen und unterstützen, kommt alles andere von selbst. Jetzt geht es erstmal darum die Wehrhaftigkeit zu schulen, solange wir auf das Geld aus Gareth warten…“ erwiderte Hane. Seine Haltung ließ keinen Zweifel an seiner Überzeugung zu.
Bevor Magnus etwas entgegnen konnte, fuhr Hane fort. „Und damit wären wir auch schon bei meinem Anliegen, Magnus. Schnapp dir Flora und reite nach Trotzbusch und Hasenheide. Verkünde dort bitte, dass an jedem zweiten Tag – am Rohalstag, Wasserstag und Erdstag – hier auf Hohenbrisken Waffenübungen abgehalten werden, zu denen sie jederzeit gern gesehen sind. Zusätzlich werde ich jeden Praiostag in die Weiler kommen und dort Waffenübungen abhalten. Die Übungswaffen stelle ich und ich ordne eine Anwesenheit von mindestens einem Dutzend einsatzfähiger Personen bei jeder Übung an. Wenn irgendjemand versucht zu widersprechen, dann schick mir Lares und Gerwulf vorbei, damit ich den beiden klarmachen kann wie es laufen wird und sie für mich die Ausrufer mimen können – die große Klappe dafür haben sie ja. Da hast du deine Autorität, Magnus!“ Hane gab Magnus einen freundschaftlichen Stoß mit dem Ellbogen.
„Flora… Hast deinem Rappen also endlich einen Namen gegeben…“ Magnus wirkte wie gewohnt skeptisch.
„Ja! Was hälst du davon?“ Hanes Euphorie war nicht zu übersehen.
„… gibt schlimmere Namen… für ein Pferd…“ Murrte Magnus. Hane meinte allerdings ein Anzeichen eines Lächelns bei dem Jäger zu erkennen, als er sich dem Rappen zuwandte und bemerkte, dass dieser sich gerade genüsslich eine der letzten Blumen im weiten Rund des Wachturms zur Mahlzeit auserkoren hatte.