Geschichten:Vom Hasen zum Hirsch - Licht im Dunkel des Waldes
Wachturm Hohenbrisken 10.Boron 1042BF
„Hane! Reiter von Süden. Wenn meine Augen mich nicht täuschen, Geweihtenornat des Weißen Jägers.“ Magnus deutete auf den weit entfernten, langsam größer werdenden Punkt, der sich langsam aus dem aufziehenden Brachennebel schälte.
„Magnus, Deine Augen haben sich noch nie geirrt.“ Hane klopfte dem Kameraden auf die Schulter und begutachtete sich kurz. Hätte er vorher gewusst heute einen Götterdiener zum Besuch zu haben, wäre er wahrscheinlich in anderer Garderobe aufgetreten. Doch so trug er noch immer die robusten Lederklamotten, die ihn üblicherweise durch seinen Alltag begleiteten. Er warf den kräftigen Fellmantel über, den er vor einigen Stunden ausgezogen hatte, weil die Arbeit ihn zum Schwitzen brachte. Der Mantel war noch einigermaßen vorzeigbar, wenn auch bereits einige Gebrauchsspuren nicht zu verleugnen waren. Nunja, der Weiße Jäger und seine Geweihten werden wohl nichts gegen ehrliche Arbeit haben…
Als der Geweihte näher kam, stellt Hane fest, dass es sich um eine Frau handelte, die schon einige Winter in ihrem Leben gesehen hatte. Sie saß sicher im Sattel und bewegte sich mit der Eleganz und dem Selbstverständnis einer meisterhaften Jägerin. Auf ihrer Schulter saß ein prächtiger Falke, der Hane mit starren Augen musterte. „Euer Gnaden, es ist mir eine Ehre Euch auf Hohenbrisken zu empfangen! Ich bin Hane von der Aue. Ihr bleibt sicher zum Essen, richtig? Darf ich Euch bis dahin ein Getränk anbieten?“
„Ja, dürft Ihr. Clandora Falkenherz, ich bringe Nachricht vom Markvogt.“ Ohne lange Umschweife zückte sie eine in Wachstuch gehüllte Schriftrolle, die sie dem Reichsritter überreichte. „Und wer ist denn dieser Schöne?“
Etwas verwirrt folgte Hane dem Blick der Geweihten. „Das ist Bellrik II., mein treuer Jagdhund.“ Clandora Falkenherz ging in die Knie und wandte ihre volle Aufmerksamkeit dem Hund zu. Der Reichsritter sollte erstmal beim Anblick des Wechselscheins in Ohnmacht fallen…
Hane las den Brief, blickte auf den Wechselschein, las den Brief noch einmal und konnte das immer breiter werdende Lächeln einfach nicht unterdrücken. Mit einem Jauchzen machte er einen energischen Schritt auf die Geweihte zu, die sich reflexartig aufrichtete. Doch zu spät, schon hatte Hane sie in eine feste Umarmung gehüllt. Eine Geweihte – und dann auch noch vom Märkischen Hof geschickt – so zu behandeln ist zwar absolut unschicklich, aber scheiß doch drauf! Ein Wechsel über die gesamte veranschlagte Summe! Ich werd verrückt!! Clandora Falkenherz befreite sich schnell mit einer kräftigen Körperdrehung aus der Umarmung, verkniff sich jedoch die Schelte für den flegelhaften Neuadligen, der seine Umgangsformen noch nicht ganz im Griff hatte. So einer – ehrlich und echt – war ihr doch tausendmal lieber als ein aufgesetzter Schnösel, der bei einer solchen Unsumme keine Miene verzog und nur den nächsten Besuch in den Garether Spielhäusern im Kopf plante…
Hane blickte die Geweihte ein wenig betroffen an. „Entschuldigt bitte! Ich war nur nicht sicher, ob man mir einen Wechsel oder einen Henker schicken würde…“ Jetzt konnte sich die Geweihte auch ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen.
„Was nicht ist, kann noch werden… Wenn Ihr Dummheiten mit dem Geld macht…“ Das Schmunzeln der Geweihten war verschwunden und Hane war nicht sicher, ob diese Aussage doch mehr als nur einen wahren Kern hatte. Bei diesen Summen, immerhin zwanzigtausend Goldtaler, nicht unwahrscheinlich.
„Oh, das haben wir nicht vor. Hohenbrisken wird eine ausgezeichnete Basis zur Sicherung des Umlands. Diese Landzunge hier, auf drei Seiten eingerahmt von der Dämonenbrache, wird zu einer Speerspitze gegen das unheilige Gezücht umgebaut! Dazu einige tüchtige Männer und Frauen mit passender Ausrüstung… Carl bring mal Deine Rüstung!“ Als der Hüne seine zerfetzte Lederrüstung brachte, zog die Geweihte eine Augenbraue hoch. Hane berichtete vom Kampf gegen das Chimärenwesen, mit Einwürfen von seinen Kameraden, während Tello das Essen vorbereitete.
Eigentlich hatte Clandora Falkenherz nicht vorgehabt hier zu bleiben… Doch irgendwie ließen diese jungen Menschen, die im stetigen Angesicht der Dämonenbrache eine überraschend warmherzige Art an den Tag legten, ihr keine Wahl…