Geschichten:Vom Wissen erschlagen
Tempel der schönen Künste, Stadt Wasserburg, 22. Tsa 1045 BF
Der Wasserburger Hesindetempel war wahrlich ein prächtiges Gebäude. Erlesene Baustoffe waren hier von Meisterhand zu einem übergroßen Kunstwerk arrangiert worden. Man konnte vom ehemaligen Baron halten was man wollte, doch er hatte es verstanden, die schönen Künste zu fördern. Wäre er nur nicht über eben diese Abgehobenheit gestolpert, die ihn zu solchen Prunkbauten verleitet hatte, er säße sicherlich noch heute auf dem Baronsthron und würde weitere Bauten stiften.
Die Hohe Lehrmeisterin Aldare Valdris schlurfte übermüdet durch den Gebetsraum, dessen hohe Decken mit hesindegefälligen Gemälden geschmückt waren, welche mit Stuck voneinander abgegrenzt wurden. Die Säulen bestanden aus edlem Marmor und waren in die Form von verschiedenen Hesindeheiligen sowie der Allwissenden gefällige Tiere gehauen. Als die Tempelvorsteherin das erste Mal durch diese Hallen gelaufen war, kam sie aus dem Staunen nicht mehr raus. Doch wie so oft gewöhnte der Mensch sich nur allzu schnell an die Dinge, die ihn immerzu umgaben und so hatte sie schon lange keinen Blick mehr für die Fresken, die Stuckarbeiten und Statuetten.
Was sie derzeit wahrlich umtrieb, war eine gänzlich andere Sache. Seit geraumer Zeit suchten sie Albträume heim. Es fiel ihr schwer unter diesen Bedingungen Schlaf zu finden oder sich auf andere Dinge zu konzentrieren. Immer wieder merkte sie, wie sie während allen möglichen Situationen geistig abdriftete und ihren Träumen nachhing, kurz gesagt, sie schlief mit offenen Augen ohne die Erholung zu haben.
Doch das sollte nun ein Ende haben! Aldare stieg in das Gewölbe ihres Tempels herab. Dort in den Archiven hoffte sie, eine Lösung zu finden. Warum auch immer ALLE Werke zur Traumdeutung in den Keller gewandert waren… Während die oberen Bereiche des Tempels noch so verziert und vollgeladen mit architektonischer Kunst waren, fehlte diese Verspieltheit in den Gewölben beinahe gänzlich. Lediglich das Kreuzrippengewölbe war ein Lichtblick, an diesem sonst so kargen Ort.
Nur mit einer kleinen Lampe bewaffnet schlurfte die Geweihte der Hesinde durch die Gänge, blieb hier und da stehen, um sich die Listen an den Regalseiten anzusehen. Die Regale ragten bis unter die Decke und standen voll mit Büchern, die manches Mal dicker als ihre Hand breit waren.
Unvermittelt blieb Aldare an einem der hinteren Regale stehen, ihr Blick blieb an der Liste hängen. Kurz überflog sie die Namen der hier eingeordneten Werke und fing an zu grübeln. Dabei schweiften ihre Gedanken jedoch langsam ins Nichts; bis ein Knarzen sie in das Hier und Jetzt zurückholte. Die Geweihte blinzelte etwas verwirrt und rieb sich die Augen. Hier musste es sein, das Werk was sie suchte und von dem sie sich Erlösung erhoffte.
Langsam schritt sie an dem Regal vorbei, suchte nach den Zahlen, die ihr verrieten wo das Buch stand. Endlich hatte sie den richtigen Abschnitt und musste schlucken. Das Buch befand sich in einer der oberen Reihen. Eigentlich bräuchte sie eine Leiter, doch dafür müsste sie wieder nach ganz oben laufen! Nein, sie wollte JETZT das Buch in den Händen halten, also stellte sie ihre Lampe auf den Boden und begann langsam die Regalbretter hinaufzuklettern.
Ganz langsam und vorsichtig, doch sehr zielstrebig, stieg sie immer höher empor. Das Regal quittierte seine unsachgemäße Behandlung mit lautem Knarzen und Ächzen, doch Aldare ließ sich nicht davon ablenken, ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem Erreichen ihres Zieles. Dann endlich, als sie schon fast unter der Decke hing, war sie auf der richtigen Höhe, zufrieden griff sie nach dem Buch im schwarzen Einband, auf dessen Rücken ein Boronsrad prangerte und wollte es herausziehen. Doch das Regal war nicht gewillt seinen Inhalt mit dieser falschen Bergsteigerin zu teilen!
Also zog die Geweihte immer stärker an dem Buch und bemerkte nicht, wie sie durch ihr Rumhampeln das gesamte Regal in Schwingung versetzte. Als sie es dann endlich schaffte das Buch herauszuziehen, ächzte das Regal besiegt auf und beschloss, dass es die längste Zeit aufrecht gestanden hatte. Es kippte erst langsam, dann doch sehr deutlich nach vorne um, Aldare bemerkte davon schon nichts mehr, ihre letzten und einzigen Gedanken waren von der Vorfreude ihres ungestörten Schlafs erfüllt.