Geschichten:Von Elfen und Wölfen – Die Macht des Steins
Die Macht des Steins
Im Reichsforst, Ende Travia 1036 BF
Die güldenen Strahlen der Praiosscheibe wärmten kaum mehr, und jener, der dennoch den letzten Rest dieser Kraft genoss, neigte auch nicht dazu, die Sonne am Himmel mit dem Namen des Götterfürsten zu bedenken. Dennoch spürte er, wie die letzte Restwärme des vergehenden Sommers seinem Körper behagte, obwohl er eigentlich die Kälte gewohnt war, denn aufgewachsen war er im ewigen Eis. Doch nicht dort, sondern hier hatte er eine Aufgabe zu erfüllen, eine Aufgabe, die so vage war wie der Zug der Wolken am Himmel. Dennoch hatte er, wie er hoffte, ja glaubte, den nächsten Schritt getan, als er die Lichtung gefunden hatte, an deren Rand er nun stand. Langsam schritt er durch die Gräser am Boden, hinüber zu dem großen Fels; einem Findling aus grauer Urzeit, so alt wie das Land selbst.
Der Stein überragte ihn um gut zwei Haupteslängen, obwohl er selbst schon sehr groß gewachsen war, und maß gute sieben Schritt in der Länge, dazu war er ebenso breit wie hoch. Im Sonnenlicht schien es, als schimmere der Fels silbrig, doch als er näher kam trat das Alter des Stein hinter dem Schein hervor und offenbarte die Spuren der Zeit. Mit einer fließenden Bewegung erklomm er den Stein, ließ sich im Schneidersitz darauf nieder, legte die linke Hand auf die Oberfläche des Felsen und schloss die Augen. Er spürte die Wärme, mit der die Sonne den Fels aufgeladen hatte, die sich förmlich von seiner Hand her durch den ganzen Körper auszubreiten schien. Und er spürte wieder, was er jedes Mal wahrnahm, aber nicht zu ergründen mochte: eine uralte Kraft, Macht und Weisheit, die von diesem Stein ausging.
So verharrte er eine ganze Weile, regungslos, in Meditation versunken, mit jeder Faser seines Geistes bemüht, das Geheimnis zu ergründen, dass diesen Ort umgab – bis ihn ein leises Rascheln aus der Erstarrung riss. Geschwind riss er die Augen auf, denn die Instinkte des Jägers sagten ihm, dass er nicht mehr alleine war. Es brauchte nur wenige Herzschläge, bis er gefunden hatte, was er suchte. Dort stand er wieder, am Rand der Lichtung – ein großer grauer Wolf, majestätisch, würdevoll, dessen ganze Haltung auszudrücken schien, dass er der Herr dieses Ortes war. Yrasiel scherte sich nicht darum. Als er den Felsen im Frühjahr zum zweiten Mal aufgesucht hatte, nur wenige Tage, nachdem er ihn entdeckt hatte, waren mehrere Wölfe auf der Lichtung aufgetaucht, doch mit ein paar schnellen Pfeilen hatte er drei von ihnen getötet, worauf die übrigen das Weite gesucht hatten. Und seitdem tauchte der große Graue jedes Mal hier auf, wenn er das Geheimnis des Steins zu ergründen versuchte. Anfangs hatte Yrasiel noch versucht, den Grauen zu erlegen und auch ihm einige Pfeile entgegengeschickt, doch das Tier war seinen Schüssen geschickt ausgewichen, aber auch nicht näher gekommen. Also hatte er es fortan hingenommen, dass der Wolf ihn offenbar beobachtete, auch wenn ihm die Gründe dafür noch nicht klar waren. Sollte der Wolf ihn angreifen, wäre es immer noch zeitig genug, ihn zu erlegen. Stattdessen konzentrierte er sich auf den Wolf, blickte ihm direkt in die Augen, doch das Tier hielt seinem Blick stand. Es war wie ein unausgesprochener Streit um etwas, das beide haben wollten, doch niemand wirklich besitzen konnte; nicht mit Worten oder Waffen ausgefochten, sondern mit Blicken. Die darüber vergehende Zeit erschien endlos, bis sich der Wolf plötzlich umwandte und im Dickicht verschwand.
Yrasiel verharrte weiter auf dem Stein und schloss die Augen erneut. Die Herrin erwartete Antworten, das war ihm bewusst, doch Zeit bedeutete ihr wenig. Seine Konzentration war hingegen verflogen. Es würde weitere Tage geben, an denen die Erkenntnis vielleicht näher lag…
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