Geschichten:Von Tod umgeben
Stadt Schwarztannen, 24. Rahja 1043 BF
Dass Salome kein gewöhnliches Kind war, war Halrich Seiler und seiner Gattin Laria schon weit vor der Geburt des Mädchens klar gewesen. Mehr als 40 Götterläufe hatte Laria da bereits gezählt, als sie endlich ein Kind unter ihrem Herzen trug. Ein Kind. Ihr erstes Kind. Noch nie zuvor war sie schwanger gewesen, all die Jahre hatten sie vergeblich gewartet und gehofft und erst als sie gar nicht mehr daran geglaubt hatte, da hatte Tsa ihnen dieses kleine Wunder zuteil werden lassen. Ja, es war ein Wunder, ein unfassbares Wunder. Und auch wenn die Anzeichen überdeutlich waren, so weigerte sich Laria die erste Zeit auch nur in Betracht zu ziehen, dass sie nun endlich mit ihrem Gatten das ersehnte Kind bekam. Für ihre Beschwerden fand sie stets andere Erklärungen. Ihre Übelkeit schob sie auf das zu reichhaltige Essen. Ihre Müdigkeit auf zu viel Arbeit. Ihre Stimmungsschwankungen auf das Wetter und ihre langsam, aber stetig zunehmende Leibesfülle auf zu viel Essen. Das änderte sich erst, als Salome sich in ihrem Bauch zu bewegen begann. Erst da begriff die werdende Mutter, dass sie wirklich Mutter wurde.
Dem werdenden Vater war natürlich die ganze Zeit über klar gewesen, was hier los war. Und er freute sich. Er hatte sich auch schon zu jener Zeit gefreut, als seine Gattin noch gezweifelt hatte. Er verstand sie. Das jahrelange Warten hatte ihnen beiden zugesetzt. Die Blicke der anderen. Noch schlimmer waren jedoch deren Kinder und die bohrende Frage, warum ihnen die Götter ausgerechnet dieses Schicksal zugedacht hatten. Oftmals hatten sie sich beide so einsam und verlassen gefühlt. Halrich beschloss daher, seiner Frau Zeit zu geben und die Zeit ließ sie begreifen, das es wahr war: Sie bekamen ihr erstes Kind.
Larias Schwangerschaft verlief gut. Obgleich sie das ein oder andere Wehwehchen plagte, jammerte sie nicht. Es wäre ihr seltsam vorgekommen zu jammern, hatte sie doch nach all den Götterläufen durch die Götter das erhalten, was ihr Gatte und sie sich so sehnlichst gewünscht hatten. Wie hätte sie da jammern können? Vielleicht war ihre Schwangerschaft aber auch einfach nur leichter als die anderer Frauen, die nicht so lange warten mussten. Eine kleine Wiedergutmachung von höchster Stelle sozusagen. Auch die Geburt war leicht und schnell. In den frühen Morgenstunden erblickte das Mädchen das Licht Deres und das noch vor Eintreffen der Hebamme. Die beiden stolzen Eltern gaben dem Mädchen den Namen „Salome“. Für ein besonderes Kind, bedurfte es schließlich einen besonderen Namen. Und besonders war dieser Name, zudem noch selten und damit genau passend. Wie sie genau auf diesen einen Namen gekommen waren und wo sie ihn gehört hatten – und irgendwo musste sie ihn gehört haben – konnte weder Laria noch Halrich später sagen. Eines wussten sie jedoch, dass er zu ihrer Tochter, zu diesem besonderen Kind, perfekt passte. Sie konnten sich keinen besseren vorstellen.
Salome war ein liebes Kind. Ein artiges Kind. Sie schrie kaum, weinte selten, wuchs und gedieh gut. Zudem lernte sie äußerst schnell, dabei half ihr wohl ihr wacher Geist, eine gewisse Wissbegier und eine gut Auffassungsgabe. Sie konnte weit vor ihren Altersgenossen sprechen, körperlich stand sie ihnen jedoch stets nach. Bereits mit sechs Götterläufen sprach sie nicht nur fließend Garethi, sondern auch Tulamidya und Bosparano. Schreiben konnte sie zwar noch nicht, in keiner der Sprachen, aber das würde sie gewiss noch lernen, daran zweifelte niemand.
Das Unglück begann nach Ausbruch der Fehde. Dieser unsäglichen Fehde, die eigentlich nichts mit ihnen zu tun hatte und doch ihrer aller Leben veränderte. Plötzlich von heute auf morgen.
Es begann als Salome eines Abends von ihrem Vater zu Bett gebracht wurde. Mit ihren großen dunklen Augen schaute das Mädchen ihn an. „Herr Vater“, fragte sie, „Was passiert, wenn meine liebe Frau Mutter zu Boron geht?“ Halrich war ein wenig verdutzt angesichts dieser Frage, doch mit fester Stimme entgegnete er ihr: „Dann wirst du bereits verheiratet sein und selbst Kinder haben.“ Damit gab sich das Mädchen zufrieden. Am nächsten Abend fragte sie jedoch erneut ihren Vater: „Herr Vater, was passiert, wenn meine liebe Frau Mutter zu Boron geht?“ Erneut erklärte er ihr: „Dies wird frühestens dann geschehen, wenn du verheiratet bist und selbst Kinder hast.“ Auch dieses Mal nahm Salome die Antwort ihres Vaters hin. Doch am nächsten Abend fragte sie erneut: „Herr Vater, was passiert, wenn meine liebe Frau Mutter zu Boron geht?“ Dieses Mal lächelte er ihr nur zu, küsste sie auf die Stirn und wünschte ihr eine gute Nacht. Am nächsten Tag brach Laria bei ihrem Weg durch Schwarztannen tot zusammen. Halrich war so voller Trauer, Kummer und Schmerz aufgrund des plötzlichen und viel zu frühen Todes seiner geliebten Gattin. Zusammen mit seiner Tochter weinte er bittere Tränen.
Zeit verging. Inzwischen war es Winter. Halrich brachte wie jeden Abend seine Tochter zu Bett. Aus ihren großen dunklen Augen schaute sie ihn an und wollte wissen: „Herr Vater, was passiert, wenn der werte Herr Baron und seine Brüder zu Boron gehen?“ Und Halrich erwiderte: „Das wird gewiss nicht geschehen bevor du verheiratet bist und eigene Kinder hast.“ Damit gab sich Salome zufrieden. Am nächsten Abend fragte das Mädchen jedoch erneut: „Herr Vater, was passiert, wenn der werte Herr Baron und seine Brüder zu Boron gehen?“ Wieder erklärte ihr Vater: „Das wird gewiss nicht geschehen bevor du verheiratet bist und eigene Kinder hast.“ Es genügte dem Kind. Doch als ihr Vater sie am nächsten Abend in Bett brachte, da wollte sie wieder wissen: „Herr Vater, was passiert, wenn der werte Herr Baron und seine Brüder zu Boron gehen?“ Daraufhin lächelte Halrich ihr nur zu, küsste sie auf die Stirn und wünschte ihr eine gute Nacht. Am nächsten Tag verbreitet sich die Kunde wie ein Lauffeuer: Der Baron und sein Bruder Raulbrand waren tot. Die Zukunft der Baronie Schwarztannen ungewiss. Graf Drego hatte bisher keinerlei Anstalten gemacht Raulbrin von Schwarztannen den Lehenseid abzunehmen, ungewiss blieb, ob der Grund dafür nur die Fehde war. Nur zwei Monde später war auch Raulward von Schwarztannen tot. Halrich kamen erste Zweifel. Hatte seine Tochter etwa gewusst, dass diese Männer sterben würden?
Wieder verstricht Zeit. Im Phex wurde dann Drego von Altjachtern mit der Baronswürde geziert. Wenig später begann Salome erneut am Abend vom Tod zu sprechen: „Herr Vater, was geschieht, wenn der alte Kammerherr auf Burg Scharfenstein zu Boron geht?“ Halrich erwiderte daraufhin: „Dann wird ihn seine Familie betrauern, begraben und ein neuer Kammerherr wird seinen Platz einnehmen.“ Salome gab sich damit zufrieden. Am nächsten Abend wollte sie dennoch erneut wissen: „Herr Vater, was geschieht, wenn der alte Kammerherr auf Burg Scharfenstein zu Boron geht?“ Ihr Vater erklärte ihr: „Dann wird ihn seine Familie betrauern, begraben und ein neuer Kammerherr wird seinen Platz einnehmen.“ Die Antwort genügt dem Mädchen. Dennoch plagte sie diese Frage auch am nächsten Abend: „Herr Vater, was geschieht, wenn der alte Kammerherr auf Burg Scharfenstein zu Boron geht?“ Dieses Mal schenkte er ihr nur ein Lächeln, küsste sie auf die Stirn und wünschte ihr eine gute Nacht. Am nächsten Morgen verbreitete sich in Schwarztannen, dass der neu bestellte Kammerherr Sionnach ui Rían in der Nacht plötzlich verstorben sei. Halrich zweifelte erneut. Aber... seine Tochter konnte doch nicht dessen Tod vorhergesagt haben. Ganz gewiss nicht. Oder... oder doch?
Zeit verstrich. Zeit in der – trotz der Fehde – eine gewisse Normalität unter dem neuen Baron in Schwarztannen einkehrte und in der sich Halrich endlich an sein neues Leben, ein Leben nur mit seiner Tochter gewöhnte. Es war ein gutes Leben. Ein schönes Leben. Das Lachen Salomes erwärmte sein Herz. Sie hatte viel von ihrer Mutter und so war ihm seine Gattin durch ihr gemeinsames Kind unfassbar nahe. Eines Abend brachte er seine Tochter zu Bett. Mit ihren dunklen Augen, den Augen ihrer Mutter, schaute sie ihn an und fragte: „Herr Vater, Herr Vater, was passiert mit mir, wenn Ihr zu Boron geht?“
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