Geschichten:Waldfriede und der Inquisitor - Milch am Morgen
Dorf Brückstetten, 1036 BF
Waldfriede gähnte und streckte sich. Erste Sonnenstrahlen fielen durch die Ritzen im Heuboden, den sie sich mit ihren Kinderchen zum Nachtlager erkoren hatte. Diese murmelten noch im Schlaf ob der Bewegung ihrer Mutter; doch sie ließen sich in ihrem Schlummer nicht weiter stören, als sie leise aufstand, die Treppe hinunter stieg und am Heuwagen vorbei zur Türe ging. Durch den Türspalt beobachtete Waldfriede einen alten Knecht, der mit zwei Eimern bewehrt und leise vor sich hinmurmelnd über den Hof schlurfte und den Kuhstall ansteuerte. Sie überlegte. Wenn sie es nur richtig anstellte, würde es heute für sie und ihre Kleinen Milch geben. Leider gab es da noch ein Problem. Gleich an der Stalltür stand der Verschlag, in dem der Hofhund nächtigte. Zwar war der Bursche angekettet, aber wenn sie sich einfach so näherte, würde er Krach schlagen. Ganz zu schweigen davon, dass sie keine Lust hatte, mit seinen Zähnen nähere Bekanntschaft zu schließen. Wie lang seine Kette war, hatte sie bereits am Vorabend herausgefunden und war dem Köter nur knapp entkommen. Ein Mordsspektakel hatte es noch dazu gegeben. Nein, ein direktes Vorgehen verbot sich von selbst. Vielleicht sollte sie stattdessen versuchen, durch das schmale Fenster zu kommen, um den Hof herum schleichen und dort wieder durch ein Fenster einsteigen? Jäh wurde Waldfriede in ihren Gedanken unterbrochen, als der Hofhund, der bis gerade eben faul in seinem Verschlag gelegen hatte, die Ohren spitzte, sich aufrichtete und ein Knurren hören ließ, dass ihr in Erinnerung des gestrigen Erlebnisses die Haare zu Berge stehen ließ. Sein anschließendes Bellen konnte aber nicht die sich nähernden Hufgeräusche übertönen und gleich darauf vernahm sie, wie jemand gewaltig gegen das Hoftor pochte.
„Im Namen des Herrn Praios und des Reiches! Öffnet das Tor! Öffnet!“, schallte es.
Verängstigt stolperte der Melkknecht aus dem Stall und hastete zum Hoftor, um dem Befehl Folge zu leisten. Mehrere Gesichter erschienen in den Fenstern und Türen, den Schlaf und die Überraschung, gepaart mit einer tüchtigen Portion Furcht in ihren Mienen. Wie wahnsinnig kläffte derweil der Hofhund und zerrte an seiner Kette. Schließlich hatte der Alte sämtliche Riegel zurückgeschoben und mit der Hilfe zweier herbei geeilter Mägde schwangen die Flügel des Tores auf. Der Anblick der in den Hof einreitenden Leute erschreckte und faszinierte Waldfriede zugleich; starr und still blieb sie darum stehen. Die meisten der Ankömmlinge trugen weiße mit goldenen Säumen besetzte Röcke über ihren Rüstungen, denen man jedoch am sie bedeckenden Staub ansah, dass ihre Träger schon einige Zeit unterwegs gewesen sein mussten. Sämtlich waren sie bewaffnet: Schwert, Schild und Streitkolben hingen an ihren Sätteln und die Helme, die sie trugen, verdeckten die harten Gesichter nur zum Teil. Ein älterer graubärtiger Mann aber stach aus dieser Gruppe heraus. Er trug keine Rüstung, sondern einen alten Hirtenhut und einen weiten Bauernmantel. Doch als er abstieg blitzte darunter ein leuchtend roter Ornat mit einem geflügelten Sonnenauge auf.
Die Anführerin der Gerüsteten, kenntlich an ihrem vergoldeten Helm, erhob ihre Stimme und rief vom hohen Ross herab an die zusammengelaufenen und ehrfürchtig dastehenden Bediensteten gerichtet: „Verneigt euch vor seiner Hochwürden Gneiserich von Spangenberg, ordentlicher Inquisitionsrat im Orden der göttlichen Kraft! Wer von euch ist beauftragt, dieses Gut zu verwalten?“
Ein hochgewachsener, kräftiger Mann, um den herum sich die übrigen Bediensteten zusammengescharrt hatten, hob seinen Arm: „Das wäre ich. Jobdan Kieseling mein Name.“
Auf den Wink ihrer Hauptfrau saßen die Gerüsteten ab: „Helus, Radiata, kümmert euch um die Pferde!“
Währenddessen trat der Graubart in seiner sonderbaren Gewandung auf den Gutsverwalter zu und sprach mit sanfter aber deutlicher Stimme: „Jobdan, im Namen des Markgrafen und der Kirchen der Zwölfe sind wir hier, um einem dringenden Verdacht auf Verrat an den Zwölfen und dem Reich nachzugehen. Dazu werden wir eine Reihe von Personen befragen müssen und auch anderweitig Untersuchungen anstellen. Hast du etwas dagegen?“
Der Meier schüttelte den Kopf: „Nein. Natürlich nicht, Hochwürden.“
„Gut. Bis die Befragungen und die Untersuchungen abgeschlossen sind, müssen alle Bediensteten des Gutshofes anwesend sein und mir jederzeit zur Verfügung stehen. Achte sorgfältig darauf, denn du wirst dich dafür verantworten müssen, sollte diese Anweisung in irgendeiner Weise missachtet werden.“
Kieselinger nickte stumm.
„Fein. Wenn du mir ferner einen Gefallen tun willst?“
„Sehr gern. Was immer Ihr wünscht, Hochwürden“, beeilte sich der andere zu antworten-
„Dann sei doch so gut und fertige mir eine vollständige Liste der Personen an, die hier auf dem Gut leben und arbeiten und natürlich mit allen Personen, die hier zwar ihrem Tagewerk nachgehen, aber nicht hier wohnen. Ferner mit allen, die im Laufe der letzten Jahre hier auf dem Gutshof angestellt oder bei Junker Rodalf von Fuchsbach zu Gast waren. Hast du das verstanden?“
„Ich werde mich darum bemühen“, der Meier schluckte.
„Ich bin überzeugt, dass du das gut machen wirst, Jobdan“, ein feines Lächeln huschte über das Gesicht des Inquisitors, „Wie lange bist du eigentlich schon Verwalter in Brückstätten?“
„Seit vier Jahren, Ehrwürden. Ich…“ Gneiserich von Spangenberg winkte ab: „Alles zu seiner Zeit, Jobdan. Meine Begleiter vom Orden vom Bannstrahl Praios unter Führung der Hauptfrau Algerte von Zackenberg werden sich gleich in den Gebäuden umsehen. Vielleicht hast du – oder auch jemand anderes aus dem Gesinde ja Kenntnis von Türen oder von Kammern, die von Uneingeweihten nur schwerlich zu entdecken sind? Jetzt wäre eine gute Gelegenheit, ihnen davon zu berichten.“
Wiederum nickte der Verwalter, der, obgleich von Natur aus mindestens einen Kopf größer als sein Gegenüber, in dessen Präsenz schier zusammenschrumpfte.
„Ich sehe, wir verstehen uns“, fuhr der Inquisitor fast im Plauderton fort und blickte auf die verängstigt abwartende Gesindeschar um sich herum, „Wenn das jetzt alle deine Leute sind, sag ihnen, sie mögen vorerst hier im Hof bleiben. Und bringt diesen kläffenden Köter zum Schweigen!“, dann winkte er der Hauptfrau von Zackenberg. Weitere Befehle hallten über den Hof und die Gerüsteten begannen mit der systematischen Durchsuchung des Anwesens.
Das war die Gelegenheit! Waldfriede hatte genug gesehen, drehte sich um und huschte die Treppe zum Heuboden hinauf. Der brutale Kläffer war fortgeschafft worden und im Stall drüben stand irgendwo herrenlos ein Eimer mit frischer Milch! Sie weckte ihre Kinder, die ob der Nachricht sofort hell wach waren. Gemeinsam machten sie sich wieder auf den Weg nach unten und schlüpften durch den Türspalt nach draußen in den Hof. Unbeachtet von den grimmig dreinblickenden Bewaffneten und dem tuschelnden Gesinde steuerte Waldfriede den Stall an und die Kleinen folgten ihr auf dem Fuß. Sie wussten einfach, dass sie sich jetzt nicht aufhalten oder ablenken lassen durften, wenn sie sich nicht den Unmut ihrer Mutter zuziehen wollten. Die Stalltür stand offen; sie brauchten nur hinein zu spazieren. Und tatsächlich: dort stand der hölzerne Pott! Ein süßer Geruch ging von ihm aus, den selbst der Furzgestank der Kühe nicht gänzlich überdecken konnte, da half nicht einmal deren lässiges Wedeln mit ihren Schwänzen, um ihre Ausdünstungen weiter zu verteilen.
Doch dann bemerkte Waldfriede, dass sie nicht die einzigen waren, die es auf den Inhalt des Eimers abgesehen hatten: Zwei fette schwarze Ratten saßen bereits daneben und machten Anstalten, das Gefäß umzustürzen aber hielten inne, als sie ihrer gewahr wurden. Reine Mordlust trat in die Augen der großen Nager. „Lauft in den Hof, schnell!“, zischte Waldfriede ihren Kleinen zu und stellte sich den bedrohlich näher kommenden Kreaturen in den Weg. Doch ihre Gegner waren nicht dumm, wie sie schnell feststellte. Denn während die eine plötzlich direkt auf Waldfriede zugesprungen kam, stürmte die zweite an ihr vorbei, den Kindern nach. Verflixt! Im Nu war das schwarze Monstrum heran und verwickelte sie in einen wilden Kampf. Vergebens versuchte sie zuerst, die Ratte mit weiten Schlägen auf Abstand zu halten. Wie Dolche bohrten sich deren Zähne in ihr Bein; Waldfriede schrie auf und zog ihrerseits eine blutige Spur über den Rücken ihres Gegners. So ineinander verbissen und aufeinander einschlagend rollten die beiden durch Stroh und Kuhscheiße zwischen den stampfenden Klauen der unruhig werdenden Rindviecher umher. Zu spät um noch zu reagieren gewahrte Waldfriede das auf sie zurasende gescheckte Bein. Der Stoß traf sie und trieb ihr die Luft aus den Lungen. Im nächsten Augenblick war die Ratte auf ihr und schlug die Krallen in ihr Gesicht. Panisch strampelte und zappelte Waldfriede, als stechender Schmerz sie erfüllte, doch sie konnte nicht entkommen. Gleich würde das schwarze Monstrum ihr die Kehle aufreißen.
Plötzlich raste der Kumpan der Ratte schrill quietschend vorbei, den Mittelgang des Stalles hinunter.
„Los hinterher! Ich will wissen, wo die herkommen!“ Schnell näherten sich von der Stalltür her die Tritte schwerer Reitstiefel.
„Da ist ja noch eine!“
Die Rufe ließen die Ratte einen Moment lang innehalten. Waldfriede nutzte die Ablenkung ihres Gegners zu einem letzten verzweifelten Befreiungsversuch. Sie fand Halt, drückte sich ab und schlitzte dem überraschten Ungeheuer den feisten Wanst auf. Dann schleuderte sie die Kreatur von sich herunter. Hinter sich das hervorquellende Gedärm herziehend trat die Ratte mit schwindenden Kräften die Flucht an. Gerade als das verwundete Nagetier ein Loch in der Stallmauer erreichte, wurde es eingeholt und von einem Mann in weißem Waffenrock mit einem sicheren Schwerthieb endgültig niedergestreckt.
Waldfriede fuhr sich mit der Hand über ihr zerkratztes Gesicht und stoppte die Blutung; in ihrem Bein hatten die Zähne eine tiefklaffende Wunde hinterlassen, doch jetzt hatte sie keine Kraft mehr dafür, die Wunde zu schließen. Wimmernd kroch sie in den Schatten und vergrub sich ins stinkende Stroh. Niemand durfte sie entdecken! Zitternd und todmüde lag sie da und dachte an ihre Kinderchen. Hoffentlich hatten sie fliehen können, ohne gesehen zu werden. Inzwischen waren mehrere Leute in den Stall geeilt, unter ihnen auch die Frau mit dem Goldhelm.
Der Mann, der die Ratte getötet hatte, deutete auf das Loch im Mauerfuß: „Eine ist in diesem Spalt verschwunden, die andere habe ich erwischt.“
„Dann lass das aufgraben!“, tönte die Hauptfrau, „Ich will sehen, wohin der Rattengang führt.“
„Sofort“, war das Letzte, was Waldfriede hörte, bevor ihr die Augen zufielen.
Anmerkung 2: Waldfriede ist selbstverständlich nicht der richtige geschweige denn vollständige Name für eine Boldin in ihren besten Jahren, denn bekanntermaßen hüten die Bolde ihre wahren Namen wie einen kostbaren Schatz und niemals geben sie ihn ohne Not preis. Zudem ist deren Aussprache ebenso kompliziert wie der Name lang, so dass die ungeübte Zunge durchaus in die Gefahr der Verknotung geraten mag. Sobald sich Bolde mit anderen Wesen Aventuriens verständigen, greifen sie daher auf einfachere Namensformen zurück, die auch für Nicht-Bolde verständlich und aussprechbar sind. Die hier gewählte Namensgebung ist demzufolge eine stark verkürzte Übertragung ins Garethi