Geschichten:Weißer Rauch - Ein guter Plan
Burg Oberhartsteen, Ende Travia 1043 BF
'Welchen Lohn konnte eine Medica und Heilerin denn schon erwarten, wenn ein Patient während ihrer Behandlung verstarb?'
Diese Frage stellen, hieß sie schon beantworten – und so hatte Peraidina Storchenhain sich ihr letztes Honorar kurzerhand selbst genehmigt, doch nicht in Form blanker Dukaten oder Silbertaler! Das wäre angesichts der üblichen Zahlungen an sie aus dem gräflichen Säckel zwar nicht sehr auffällig, aber für ihr nunmehriges Vorhaben nichts desto trotz zu schwer gewesen. Stattdessen hatte sie in einem günstigen Moment nach etwas anderem gegriffen. Und dieses Etwas befand sich nun gut verwahrt in einer ledernen Tasche, in welcher sie normalerweise ihre Instrumente und allerlei Heilmittelchen zu verstauen pflegte. Nur zu bewusst war ihr, dass sie damit ein überaus riskantes Spiel spielte, denn es konnte sie entweder sehr reich machen oder aber an den Galgen bringen. Aber so, wie die Dinge lagen, wäre bei ihrem weiteren Verbleib auf der Grafenburg die zweite Möglichkeit ohnehin die wahrscheinlichere. Deshalb brauchte sie diese Rückversicherung, die sich später auch als Stütze für weitere Ansprüche einsetzen lassen mochte. Und falls Luidors heißsporniger Erbe nicht kooperieren sollte, nun, es gäbe sicher andere Interessenten für das Stück, dessen war sie sich sicher.
Eigentlich hätte sie wie der clevere Caravancello schon längst verschwinden müssen, hatte sie an dem schwerkranken Luidor doch lange gut genug verdient. Aber dann hatte die dämliche Belagerung begonnen. Unter diesen Bedingungen einen Fluchtweg zu finden, hatte sie einige Mühe gekostet und nun war es so weit: Sie nutzte die Unruhe in der Burg beim jüngsten Vorstoß der Schlunder Belagerer und empfahl sich still auf die boron’sche Art. Als Abschiedsgruß hatte sie eine Phiole mit einem starken Schlaftrunk hinterlassen, denn auch wenn sie verduftete, wollte sie den Mann in seinen letzten Stunden auf Dere nicht unnötig leiden lassen.
Aus dem Versteck in einer Kellernische zog Peraidina das hier schon vor Tagen bereitgelegte improvisierte Seil hervor und eilte damit zielstrebig zur Hofmeisterei und die enge Stiege hinauf zu den derzeit verwaisten Knappenkammern. Die Burschen und Maiden hatten wie erhofft gerade alle an anderer Stelle bei der Abwehr des Angriffs zu tun, was ihr nun den Weg frei machte. Denn oben befand sich am Ende eines Ganges ein Fenster nach draußen mitsamt steinernem Kreuz; groß genug, dass sie sich selbst hindurch zwängen konnte und stabil genug, um sich an einem im Kreuz befestigten Seil an der Außenmauer der Kemenate hinabzulassen. Hier, an einer der höchsten Stellen des Oberhartberges würde so schnell keine Attacke erfolgen und die Wächter waren ohnehin abgelenkt.
Oder doch nicht? Für einen bangen Moment hielt sie inne und lauschte, war ihr doch, als hätte sie ein leises Knarren auf der Stiege unter ihr vernommen. Als sich nichts weiter rührte, setzte sie ihren Weg fort und machte sich ans Werk. Das eine Seilende verknotete sie am Mittelpfosten des Fensters; das andere warf sie hinaus und vergewisserte sich mit einem Blick hinunter, dass es tatsächlich bis an den Mauerfuß reichte.
„Was tut Ihr da?“
Peraidina fuhr herum. Also doch! Offenbar war ihr einer der Pagen auf die Schliche gekommen. Nun hieß es schnell handeln: Geschwind zog sie eine faustgroße Tonkugel aus ihrer Tasche und warf sie mit aller Kraft auf den Boden direkt vor den Burschen, so dass das Gefäß zerschellte. Befreit aus seinem Gefängnis entfaltete dessen Inhalt zischend seine Wirkung. In der Tat hatte Caravancello nicht gelogen, als er seiner Collega die hervorragende Wirkung des Rauchpulvers angepriesen hatte: Dichte weiße Schwaden verhüllten im Nu den gesamten Gang und bissen in ihren Augen. Nun galt es erst recht keine Zeit mehr zu verlieren: Die überraschten Rufe des Pagen und der dicke Rauch mussten auch andere alarmieren. Sie hastete zum Fenster, schwang sich nach draußen und begann mit rasendem Herzen ihren Abstieg. Als sie schließlich unten wohlbehalten den festen Fels unter ihren Füßen spürte, frohlockte sie. Ha! Entwischt! Jetzt konnte ihr die Plage von Page nicht mehr gefährlich werden.
Doch im nächsten Moment durchzuckte Peraidina jäh die Erkenntnis: die Tasche! Sie hatte in ihrer Hast die Tasche oben auf der Fensterbank liegen lassen – und ein Zurück gab es nicht mehr! Ein wütendes Heulen entrang sich ihrer Kehle, bevor sie sich mit zitternden Knien in Richtung der Schlunder Linien davonmachte.