Geschichten:Weiser Zauberer und edler Ritter

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Zum Prüfungsfest, 30. Efferd 974 BF, im Hotel Seelander zu Gareth

"Magister Extraordinarius!", der hochgewachsene Ritter hatte die doppelflüglige Tür mit soviel Schwung geöffnet, dass einer der beiden Lakaien nicht mehr rechtzeitig zur Seite springen konnte und selbige schmerzhaft an die Schulter bekam. Zumindest versucht er Haltung zu bewahren, dachte sich Leomir.

Er schritt ungeachtet der anderen Gäste direkt auf seinen kleinen Bruder zu und warf ihm ein schweres in Stoff eingeschlagenes Paket auf den Tisch, dass der teure Wein in einigen Gläsern auf das ebenso teure Tischtuch kleckerte.

"Freiherr!", antwortete ihm der Beschenkte, "schön, dass Du es zu meinem Prüfungsfest geschafft hast - und verzeih, das ich ob eben jener Prüfungen nicht zu Deiner Belehnung kommen konnte."

"Los, mach es schon auf", Leander hob unter dem Rümpfen einiger Nasen seinen Stuhl von der anderen Seite des Tisches auf die freie Stirnseite des so perfekt arrangierten "U" und setzte sich seinem Bruder gegenüber.

Ein dicklicher Gemeiner zu seiner rechten räusperte sich vorsichtig: "Hochgeboren, Freiherr, wir wollten gerade die Suppe..."

Das Gesicht des Ritters wechselte in einem Wimpernschlag vom freundlichen Schlunder zum finsteren Schlächter. "Ich habe solche wie Dich, die meinem Stand das Wann und Ob des Essen diktieren wollten, in den letzten Jahren mit Freude niedergeritten."

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Die beiden so ungleichen Brüder waren - abgesehen von ein paar unwichtigen Lakaien - die letzten Gäste des Festes.

"Die 'Gesammelten Legenden der Hartsteener Lande' in der vergriffenen Erstausgabe, danke lieber Bruder", Leander strich über den Einband des Buches, "Das erinnert mich, dass ich den Autor unbedingt besuchen wollte. Ich hörte, er arbeitet an einer sensationellen Entdeckung unsere beiden Grafschaften betreffend."

"Mir war einer der Patrizier in Hartsteen noch einen Gefallen schuldig", der Ritter zuckte mit den Schultern, "Ich konnte ihm bei der Befragung eines Delinquenten behilflich sein."

"Jetzt haben wir beide also vollends die Rollen getauscht:", sprach es Leander aus, "Bei unseren Abenteuern im Murimelwald warst Du doch immer der weise Zauberer und ich der edle Ritter."

Leomir drehte den Krug nachdenklich zwischen den Fingern. "Ein Ritter bin ich schon, aber edel konnte ich nie werden. Während diese...", er hustete ein leises "Zwillinge" und fuhr fort "...während die also an sich biegenden Tischen ihre Orgien feiern, darf ich die Hungernden auseinandertreiben. Valzenias Tod hat es nur schlimmer gemacht."

Der Magister zog fragend die Brauen hoch, "Ich hatte heute abend den Eindruck, Du hättest Deine Freude daran."

Der Ritter grinste: "Nur bei solchen Pfeffersäcken, die meinen, unserer altes ehrenvolles Blut könnte man mit Dukaten kaufen. Aber tu nicht so, ich habe Deine Dissertatio gelesen: 'Über den Gebrauch der magischen Pain zur Interrogatio'. Da hast Du Deine volle Erfahrung der letzten Jahre einfließen lassen - inklusive jener aus unserer gemeinsamen Suche nach Brander Bumm"

Leander schaute betreten ins Glas, "Dafür scheinst Du weiser geworden sein, Bruder"

"Wohl nicht so weise wie ein 'Magister Extraordinarius'!", er prostete ihm zu.

Leander erwiederte den Gruß mit dem eigenen Glas: "Mit der Macht der Magie verändert man alles...", er atmete tief ein, "aber die Macht der Magie verändert eben auch alles. Ich bin nicht weiser geworden, ich weiß jetzt nur besser, wie wenig ich weiß."

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Das Doppelzimmer erinnerte beide trotz der langen Jahrzehnte dazwischen an die Nächte im gemeinsamen Turmzimmer auf Burg Murimel.

"Weißt Du eigentlich, wen ich diese Woche treffen konnte?", flüsterte der Ritter ins Dunkel und wartete nicht mit der Antwort, "Prinz Reto."

Leander setzte sich auf: "Ich dachte, den haben die nach Maraskan verheiratet?"

"Nein: Er ist hier in der Hauptstadt", Leomir grinste, "und ich habe den Eindruck, er möchte bleiben."

"Und?", fragte der Magier spöttisch, "Ist er genauso verkommen?"

Leander schüttelte den Kopf - kaum sichtbar in der Dunkelheit: "Ganz im Gegenteil. Er hat die Härte Pervals und die Zunge Bardurons."

"Dann, lieber Bruder", Leander legte sich wieder hin und zog die Decke bis über die Nase, "will ich hoffen, dass wir noch so lange als weiser Zauberer und edler Ritter leben, wie es braucht, um ausgleichend Gutes auf Rethons Seelenwaage anzuhäufen."


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Texte der Hauptreihe:
30. Eff 974 BF am Abend
Weiser Zauberer und edler Ritter


Kapitel 1

Der Sonne geweiht


Kapitel 16

Bluthands Bluthund
Autor: VolkoV