Geschichten:Weyringhaus - Abschied vom Erben IX
An Sigmans Grab. Nachmittägliche Traviastunde des 4. Phex 1043 BF
Dramatis persona:
Tobimor, Soldat in der Raulsmärker Garde, Ehrenwache
Die Familie Weyringhaus hatte eine besondere Gabe darin, scheinbare Widersprüche miteinander zu vereinen. So erhob sich auf dem Boronanger des Peraineklosters hinter der Traviakapelle ein Gebäude, das allseits als “Neues Grabmal” bekannt war, obwohl es selbst schon wieder deutlich über einhundert Götterläufe an diesem Platz stand. Das Bauwerk konnte sich seinerseits offenbar nicht recht entscheiden, ob es nun eine Gruft, ein Nasuleum oder ein Columbarium sein wollte - also war es von allem etwas. Im Wesentlichen bestand es aus zwei länglichen, parallel errichteten Mauern, die mit schwarzem Marmor verkleidet und mit einem schlichten, flachen Dach verbunden waren. An den Außenseiten befanden sich in mehreren Reihen Nischen für Urnengräber, in denen treue Gefolgsleute der Familie ihre letzte Ruhestätte fanden oder die dem Gedenken an Angehörige dienten, die andernorts bestattet waren. Durch ausladende Tore an beiden Enden der Mauern konnte man ins Innere sehen. Die schmiedeeisernen Gitter trugen Ornamente aus Hufeisen, dem Wappenbild der Familie.
An den Innenseiten der Mauern war in länglichen Nischen Platz für Särge, in denen Mitglieder der Familie ruhten. Dazwischen führte eine breite Treppe mit flachen Steinstufen in das Grabgewölbe, vorbehalten denjenigen, die das Amt des Burggrafen trugen, sowie ihren Ehegatten. Hier hätte Sigman - lange nach Oldebor und Merisa - einen ehrenvollen Platz einnehmen sollen. Nun blieb ihm nur eine Mauernische oben, neben einem Kindersarg, in dem sein Bruder Halman schon seit über vierzig Jahren schlief.
Sigmans Sarkophag war aus hellem Sandstein gefertigt - ein Zeichen dafür, dass er vor der Zeit gestorben war: der Stein würde erst im Laufe der Jahrzwölfte nachdunkeln, die dem Erben eigentlich noch hätten vergönnt sein können. Er war schlicht und quaderförmig. Einziger Schmuck war ein schmales, umlaufendes Ornament an der oberen Kante: schräg eingeschnitzte Kerben, die in Rot, Blau und Gelb so ausgemalt waren, dass sie wie ein geflochtenes Band in den Wappenfarben der Familie wirkten. Auf der Mitte der Längsseite waren die Konturen des Wappens eingemeißelt und ebenfalls farbig ausgefüllt. Auf dem Deckel lag ein Gesteck aus Stroh und getrockneten Blüten - für frische Blumen war es noch zu früh im Jahr.
“...fast geschafft”, murmelte Tobimor angesichts des Sargs des Erben der Raulsmark. ‘Des alten Erben’, verbesserte er sich in Gedanken, als er an die junge Ulmia, aber auch an den Bruder Sigmans, Roban, dachte.
‘Der wäre sicherlich bei weitem besser geeignet, viele Entscheidungen zu treffen, da er als Wehrheimer und Soldat noch wußte, was Entbehrungen bedeuteten - oder Opfer.’ Viel besser sicherlich als das junge Ding, das zuerst kaum aus Weyring und später dann aus Natzungen weg gekommen war, überlegte der erfahrene Gardesoldat der Raulsmärker und fluchte leise über das Unglück der Familie Weyringhaus.
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