Geschichten:Wochen der Entscheidung - Gespräche mit einem Grafen
Burg Oberhartsteen, 12. Hesinde 1032 BF
Es hatte zu schneien begonnen. Hadrumir hatte sich mit seinem Pferd durch das schlechte Wetter gekämpft. Immer wieder hatten ihn tiefe Schneewehen aufgehalten und mehr als einmal hatte er seinem erschöpften Reitpferd eine Pause gönnen müssen. Auf der völlig eingeschneiten Burg des Hartsteeners hatte ihn ein Diener sofort nach der Ankunft in ein Gästezimmer geführt. Jetzt – zwei Stunden nach seiner Ankunft – stand er in einem Kaminzimmer und wartete auf den Burgherrn. Ein wärmendes Feuer prasselte im Kamin.
Fasziniert betrachtete Hadrumir ein Portrait Sigharts von Hartsteen. Der Mann war wahrscheinlich der begnadeteste Graf Hartsteens gewesen, vom einfachen Volk und den Rittern der Grafschaft als ein Heiliger verehrt. Ein Vorbild der Ritterlichkeit und des aufrechten Adels, dem die Menschen nicht aus Zwang, sondern aus Liebe und Loyalität folgten. In dem großen Ölgemälde, dem einzigen Bild im stilvoll eingerichteten Salon, hatte der Künstler es tatsächlich geschafft die ungebändigte Lebenskraft Sigharts in dessen eisgrauen Augen fest zu halten und seine unerbittliche Stärke in den entschlossen zur Faust geballten Hand anzudeuten, mit der er sich auf ein altes Schwert stützte. Aber vor allen hatte der Künstler die liebevolle Hingabe des Grafen an seine Familie und seine Untertanen durch ein kaum wahrnehmbares, warmes Lächeln einfangen können, das auch noch heute in Hadrumirs Herzen ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit hervorrief.
Luidor von Hartsteen betrat das Zimmer. Hadrumir hatte das Oberhaupt der Hartsteens nicht mehr gesehen, seitdem er vor fast drei Jahren dessen Gemahlin Raulgard samt ihrer Tochter zu sich nach Orbetreu gebracht hatte. Und obwohl gerade die Speichellecker um den Hartsteener sich in ihren Forderungen nach Sühne und Strafe für die Verschleppung von Frau und Kind fast die Kehle aus dem Hals geschrieen hatten, hatte deren Mann besonnen gehandelt, einen wichtigen Verbündeten geopfert und sich unter vier Augen lange und klug mit Hadrumir unterhalten. Doch der Mann, der nun das Zimmer betreten hatte, wirkte blass und seltsam abwesend.
„Die Zwölfe zum Gruße“, sprach Hadrumir.
„Die Zwölfe auch mit euch, Wohlgeboren“, antwortete Luidor mit ruhiger Stimme. Er wies auf zwei gepolsterte Sessel. „Wollt ihr euch nicht setzen?“
Hadrumir räusperte sich, nachdem sie Platz genommen hatten. „Ihr wisst wahrscheinlich, warum ich hier bin.“
Luidor schüttelte verwundert den Kopf. „Nein. Um ehrlich zu sein, verschließt sich mir der Sinn eures Besuches.“
Hadrumir sprach gelassen und versuchte, sich seine Gedanken nicht anmerken zu lassen. „Es geht mir um euren Neffen Frostelin. Er hat die Orbetreu gestürmt.“
„Nun, davon habe ich Kunde erhalten. Allerdings frage ich mich, was ich mit eurer Fehde zu tun habe?“, fragte Luidor ebenso gelassen.
„Ihr wisst es also wirklich nicht?“, fragte Hadrumir überrascht.
„Was sollte ich wissen?“ fragte Luidor leicht gereizt. „Lasst eure Spielchen und kommt zum Punkt eurer Sache. Was wollt ihr von mir?“
Hadrumir schnaufte kurz und antwortete ebenso gereizt: „Frostelin hat meinen Vetter Ludorand erschlagen, nachdem sich dieser bereits ergeben hatte. Und schlimmer noch: Er hat Ludegar von Schwingenfels, unseren Unterhändler, so sehr zusammenschlagen lassen, dass dieser dem Tode näher ist als dem Leben. Ich hatte eigentlich gedacht, dass eure Gefolgsleute die Gebote der Ritterlichkeit beachten.“
Luidor schaute Hadrumir scharf an, doch dieser sprach ungerührt weiter.
„Ich persönlich gehe nicht davon aus, dass ihr ein solches Verhalten billigt. Doch werde ich dem nicht tatenlos zusehen. Und dennoch möchte ich Frieden haben.“
„Frieden? Was meint ihr damit?“, fragte Luidor überrascht.
Hadrumir musste sich straffen: „Wart ihr es nicht, der einst gesagt hat, dass keine Fehde ewig dauern kann?“
Luidor blickte Hadrumir ernst in die Augen und er konnte die Aufrichtigkeit in dessen Augen sehen. „Dies waren meine Worte. Also was schlagt ihr vor? Ich gehe davon aus, dass ihr einen Vorschlag unterbreiten wollt, um diese verfahrene Situation für alle Seiten zufriedenstellend zu bereinigen, ansonsten hättet ihr sicherlich nicht den beschwerlichen Weg nach Oberhartsteen unternommen.“
Hadrumir sprach ernst. „Ich habe in der Tat einen Vorschlag. Ich biete im Namen der Familie Schwingenfels der Familie Windischgrütz die Unfehde an. Dafür stelle ich jedoch Bedingungen. Zum Ersten wird Burg Orbetreu von Frostelin geräumt. Zum Zweiten wird mir der Leichnam Ludorands übergeben. Zum Dritten verzichtet Frostelin auf den lächerlichen Anspruch auf die Baronskrone Natzungens. Frostelin kann gerne dafür eine angemessene Entschädigung verlangen, dass er die Orbetreu räumt. Alles weitere wird gegeneinander aufgerechnet, wie es die Tradition verlangt.“
Hadrumir taxierte Luidors Reaktion genau an, um dessen Gedanken zu ermessen. Der Widersacher Geismars war aufgestanden und an den Kamin getreten. Eine längere Pause entstand, in der niemand ein Wort sprach. Hadrumir beobachtete seinen Gastgeber, dieser starrte in die brennenden Holzscheite des Kamins, welche hin und wieder mit einem lauten Knacken einen Funken stieben ließen.
„Und warum kommt ihr zu mir?“, fragte der Hartsteener, noch immer mit dem Rücken zu seinem Gast. Langsam drehte Luidor sich um. „Wollt ihr, dass ich dem Sohn Bodeberts von Windischgrütz den Befehl gebe, die törichte Fehde mit eurem Haus zu beenden?“
Hadrumir blieb sitzen und antwortete mit ruhiger Stimme: „Ihr könntet euren Neffen überzeugen, dass es ein sinnvolles Angebot ist. Im Gegenzug dafür werde ich nämlich dafür sorgen, dass die Familien Schwingenfels, Natzungen und Katterquell sich vollkommen aus der Natterndorner Fehde zurückziehen. Wir würden weder direkt noch indirekt eine Unterstützung Geismars betreiben.“
Ein leises Lächeln erschien auf den Gesichtszügen Luidors, verschwand aber wieder, als er antwortete: „Viel ist euer Angebot nicht mehr wert, seitdem die Kaiserin sich zu Wort gemeldet hat. Ich glaube mich zu erinnern, dass ihr es gewesen seid, der mit einigen Verbündeten vor dem Reichsgericht eine formale Klage eingereicht habt gegen die Krone und die Entscheidung über den Grafenthron aus den Händen der Hartsteener den Adligen des Koschs und der Nordmarken überantwortet habt.“
Hadrumir blickte Luidor hart an: „Ich tat nur, was schon längst hätte getan werden sollen.“
„Jetzt, wo der Reichsmarschall vom Blautann von ihrer kaiserlichen Majestät zum Verweser bestallt wurde, bis das Reichsgericht in Elenvina über den rechtmäßigen Grafen entschieden habe, weiß auch mein Gegner auf Feidewald, dass ein weiteres offenes Vorgehen in unserer Fehde dem Ziel entgegensteht, seine unrechtmäßige Herrschaft über Hartsteen zu legitimieren. Ihr gebt also nur preis, was ihr eh schon aufgegeben habt. Die Fehde wird nicht mehr in Hartsteen entschieden werden.“
Hadrumir stand langsam auf und schüttelte den Kopf. „Ihr müsst doch verstehen, dass dieses Land vor allem anderen eines braucht - Frieden. Ihr müsst bedenken, dass ich mich immer als Ritter Hartsteens verstanden habe und in meinem Herzen stets dem Ruf der Ehre gefolgt bin. Und ich ging davon aus, dass es Euch genauso geht. Mich widert das Streben Geismars nach seinem persönlichen Vorteil zutiefst an und, ich hoffe Ihr entschuldigt, wenn ich offen und ehrlich spreche, bin ich ebenfalls kein großer Freund der Winkelzüge, derer Ihr Euch zur Erlangung Eurer Ziele bedient. Aber wenn Ihr Euch für den Frieden zwischen den Häusern Windischgrütz und Schwingenfels einsetzen würdet, dann stünde ich, als Edelmann und Ritter Hartsteens, in Eurer Schuld und verspreche, Ihr würdet es nicht bereuen, Euer Vertrauen in mein Wort zu setzen.“
Nickend trat Luidor von Hartsteen auf seinen Gast zu, schüttelte seine Hand und begleitete Hadrumir zur Tür. „Ich werde meinem Neffen Frostelin Euer Angebot zur Unfehde unterbreiten. Ich setze mein Vertrauen in Euch und werde mich, und auch Euch, zu einem späteren Zeitpunkt daran erinnern, was wir hier unter vier Augen gesprochen haben. Ich habe Anweisung gegeben, dass man Euch ein Gästequartier bereitet, auf dass Ihr Euch vor der Heimreise noch stärken könnt.“