Geschichten:Ein Ende und ein Anfang – Schwester

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Burg Scharfenstein, 13. Rahja 1046 BF

„Ah, Drego“, entfuhr es mir beinahe etwas atemlos. Ganz unvermittelt blieb ich auf der großen Treppe stehen. „Hier bist du also.“ Mein Bruder stand wenige Schritte über mir, hielt seinen Sohn in den Armen. Der Knabe, der so sehr meinem Bruder glich, schaute mich aus den großen Augen seines Vaters neugierig an. Umringt waren beide von Mitgliedern seines Hofstaates, darunter seine Pagen und Knappe, einige seiner Hausritter, die Hofkaplanin Lindegard Tempeltreu und die Vögtin Yolande von Raukenfels.

Gerlinde“, hob er an und zog die Stirn kraus, „Der Leuin zum Gruße.“

„Die Leuin auch mit dir, Bruder“, erwiderte ich und erbrachte ihm den Kriegergruß. Daraufhin nahm der Knabe seine kleine Hand, ballte sie zur Faust und führe sie zu seinem Herz. Seine Bewegungen waren unkoordiniert, aber es war deutlich zu erkennen, dass er sich gerade ebenso an diesem Gruß versucht hatte. Alle begannen zu grinsen – auch ich. Dann schmiegte sich der Knabe ganz dicht an die Brust seines Vaters und schaute noch kecker drein wie zuvor.

„Er ist so groß geworden“, merkte ich an, „Er wird eines Tages gewiss ein großer Krieger werden.“

Das Grinsen meines Bruders wurde breiter, wobei er zärtlich seinem Sohn über das blonde Haar strich: „Du warst schon lange nicht mehr hier, Gerlinde.“

„Du kannst mich jederzeit im Rondra-Tempel in Überdiebreite antreffen“, erwiderte ich daraufhin nickend, „Es ist gar nicht weit von hier und du und die deinen sind mir dort jederzeit willkommen.“

Ernst schaute er mich an: „Ich kann nicht vergessen, was mit den Waldsteinern damals vorgefallen ist. Noch heute träume ich in so mancher Nacht von Hermine von Alka.“

Ich biss mir auf die Lippen. Daran hatte ich gar nicht gedacht. „Die Diener des Schweigsamen könnend dir gewiss dabei helfen“, schlug ich vor, „Es gibt doch auch einen Tempel ihrer Diener hier?“

Erlenfaller“, seufzte er schwer und nickte bestätigend, „Dieser Tempel untersteht den Erlenfallern und diese haben eindrücklich bewiesen, wozu sie fähig sind. Nicht einmal meiner einstigen Knappin Eylrun oder gar Hochwürden Perainidane ...“ Nun wandte er sich der Hofkaplanin zu. „... genießen mein uneingeschränktes Vertrauen.“ Schwester Lindegard wich dem Blick meines Bruders aus.

Einen Augenblick war es still. Ich war keine Frau großer Worte. Ich war eine Dienerin der Leuin. Und ich begriff, dass ich beinahe nichts über meinen Bruder und dessen Leben wusste. So fand ich keine Worte. Was hätte ich auch sagen sollen? Die Situation schien kompliziert. Zu kompliziert um sie innerhalb weniger Wimpernschläge zu erfassen.

Indes riskierte der Knabe immer wieder scheue Blicke. Das ein oder andere Mal wandte er sich mir gar mehr zu, schmiegte dann jedoch wieder eilig sein Gesicht an die Brust seines Vaters. Dass mein Bruder einmal Frau, Kinder und ein Baronsreif sein Eigen nennen würde ...

„Du hast dich nicht angekündigt. Warum bist du gekommen, Gerlinde?“

Nun straffte ich mich: „Drego, du musst mich begleiten. Es bleibt uns nicht viel Zeit.“

Er legte seinen Kopf leicht schräg: „Worum geht es?“

„Vertraust du mir?“

„Selbstredend!“, entfuhr es ihm ohne Zögern, „Du bist nicht nur eine Dienerin der Sturmherrin, sondern auch meine Schwester.“

„Wir müssen nach Hause“, eröffnete ich ihm und nickte energisch, „Sofort. Wir haben nicht viel Zeit.“

„Nach ...?“, echote er tonlos und seine Augen verengten sich, „... Hause?“

Äußerst langsam, aber überdeutlich nickte ich.

„Was ...?“, seine Stimme brach.

Mutter“, brachte ich nur heraus.

„Sie ... sie ... sie hat meine Frau beleidigt. Sie hat ...“

„Das ist nicht mehr wichtig, Drego“, ich schüttelte den Kopf und fasste an seine Schulter, „Es ist nicht mehr wichtig.“

Mein Bruder wurde blass. Seine Augen füllten sich mit Tränen.


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Texte der Hauptreihe:
K2. Vater
K3. Mutter
K4. Bruder
K5. Nichte
13. Rah 1046 BF
Schwester


Kapitel 1

Vater
Autor: Orknase