Geschichten:Im Bann der blauen Blüten – Morgen ist auch noch ein Tag

Burg Halhof, Anfang Praios 1046 BF:

"Verzeiht, Euer Hochgeboren", ein Mann mit grauem Haar betrat eilig das Arbeitszimmer des Kronvogtes. "Ihr habt nach mir rufen lassen?", fragte er nach Atem ringend.

Der Angesprochene reagierte nicht. Regungslos stand er am geöffneten Fenster und blickte hinaus.

"Herr?", der Grauhaarige stand an der Tür und wartete.

Endlich drehte der Vogt sich um. "Ah. Giesebrecht", sprach er langsam. "Ich habe dich hergerufen weil, … ". Die Pause schien endlos und fast klang es, als wolle der Vogt eine Frage stellen.

"Die Briefe an das Concilium", entgegnete der Alte rasch.

"Richtig". Die Kraft war in die Stimme des Vogtes zurückgekehrt. "Wie weit waren wir mit dem Diktat?"

"Ähm. Moment, Euer Hochgeboren", Giesebrecht eilte zum Schreibpult. "Die Pergamente habe ich hier", ergänzte er, während er die Blätter hervorsuchte.

"Giesebrecht! Die Einladungen an das Concilium sollten längst den Boten übergeben und zu Ratsmitgliedern unterwegs sein! Leuenwald wird, wie du weißt, vermisst. Dem sollten wir nachgehen."

"Ja, Herr." Giesebrecht nickte.

"Also. Wo waren wir?"

"An die ehrenswerten Ratsmitglieder des Kronvögtlichen Conciliums", las Giesebrecht vor.

"Und weiter?", frage Hal von wirsch.

"Nichts weiter." Giesebrecht schluckte. "Euer Hochgeboren geruhen gestern nach der Anrede zu unterbrechen", fügte er leise hinzu.

"Ja, richtig." Hal drehte sich zum Fenster. Aus seinem Wams zog er ein weißes Leinentuch, auf dem eine feine Stickerei zu sehen war. Sie zeigte das Wappen derer von Wiesenquell, das von einem Kranz aus blauen Blüten eingerahmt war.

Behutsam strich der Vogt über die Stickerei. Er fühlte die feine Struktur der Seidenfäden. Hal von Ehrenstein schloss die Augen.

"Herr?", fragte Giesebrecht vorsichtig. "Wollen wir fortfahren?"

"Nein. Geh!", entgegnete der Vogt.

Die Verwirrung war dem alten Schreiber ins Gesicht geschrieben. Unsicher fragte er: "Euer Hochgeboren, wünscht Ihr, dass ich die Schreiben aufsetze?"

"Nein, geh", wiederholte Hal von Ehrenstein. "Morgen ist auch noch ein Tag."