Geschichten:Familienangelegenheiten und andere Katastrophen - Auf und davon

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Auf und davon

Reichsstadt Perricum, 11. Boron 1037 BF, am späten Nachmittag

Das kleine Mädchen lief voraus und huschte, nachdem es sich zuvor durch einen Blick über die Schulter und dem folgenden Nicken der Mutter davon überzeugt hatte, dass es in Ordnung war, durch das geöffnete Tor in den Hof. Rondriga lächelte einmal mehr, als sie ihrer Tochter nachsah, die sie an sich selbst zur Kinderzeit erinnerte; und glaubte man Vater und den Geschwistern ihr sogar wie aus dem Gesicht geschnitten war. Kinderlachen schallte ihr entgegen, als sie selber durch das Tor trat; Shanna spielte bereits mit Yeshinna, Cara und Corben.

Raban, ihr Schwager und Corbens Vater, lehnte mit verschränkten Armen an der Hofwand neben der Hintertür der Werkstatt und sah den Kleinen beim Spielen zu; er machte wohl gerade eine Pause.

„Hallo“, sagte sie nur.

„Wo die Tochter auftaucht, ist die Mutter nicht fern“, erwiderte Raben, stiess sich von der Wand ab und ging ihr entgegen. „Auch mal wieder hier?“ Er nahm sie zur Begrüßung in die Arme; sie ließ ihn gewähren.

„Ja, ich brauche ein paar Sachen, die ich noch hier habe“, entgegnete sie. Im Gegensatz zu ihren Geschwistern wohnte sie nicht mehr hier und war mit knapp 13 Jahren von zu Hause abgehauen. Nach kurzer Zeit der Herumtreiberei hatte es sie in die Arme der Simiakirche getrieben, woran nicht zuletzt Tante Khora beteiligt war, die selber eine Priesterin Simias war. Erst von ihr hatte sie akzeptiert, was sie aus dem Munde ihres Vaters nie hatte wahrhaben wollen: dass nämlich ein rechtschaffendes Handwerk ein guter Grundstein für’s ganze Leben war. Und anstelle einer Lehre in der väterlichen Harnischmacherei, gegängelt von den älteren Geschwistern, die bereits Gesellen waren, hatte sie das Töpferhandwerk erlernt; eine Kunst, bei der man selber viel schönere Dinge erschaffen und gestalten konnte als schnödes Rüstzeug. Nebenbei hatte Tante Khora sie in allem unterwiesen, was eine Priesterin Simias ausmachte – und Rondriga schließlich selbst die Weihe gespendet.

Tante Khora hatte auch zu ihr gestanden, als sie mit Shanna schwanger gewesen war – und nach diversen Techtelmechteln beim besten Willen nicht sagen konnte, wer wohl der Vater des Kindes sein könnte. Vater hatte sich zuerst arg aufgeregt, sich dann aber wieder gefangen. Bei ihrer ältesten Schwester hatte er auch keinen Aufstand gemacht, allerdings wusste Kiranee immerhin, wer der Vater ihrer Tochter war, auch wenn selbiger längst nicht mehr in der Stadt weilte.

Aus diesem Grunde kam sie nur selten in ihr Elternhaus, was regelmäßig zu schnippischen Bemerkungen führte. Und gerade Raban war einer, der dies besonders gerne tat, auf der anderen Seite aber immer besonders liebenswürdig tat.

„Ist Vater da?“ fragte sie, nachdem sie sich aus Rabans Umarmung befreit hatte.

„Nein, der ist unterwegs. Trifft sich mit irgendwelchen Wichtigtuern vom Magistrat“, erwiderte er.

„Na gut, dann gehe ich gleich hoch.“ Sie wandte sich um. „Bliebt schön hier im Hof, Shanna, hörst Du?“ rief sie ihrer Tochter zu, bevor sie die Holztreppe zu Balustrade hinaufstieg, über welche man in die Wohnung über der Werkstatt gelangte. Dort suchte sie die kleine Kammer auf, die als Stauraum für alles diente, was anderswo keinen Platz mehr hatte oder gerade nicht gebraucht wurde.

Nach kurzer Zeit fand sie, wonach sie gesucht hatte: Eine Lederrolle, in welcher sich diverse Werkzeuge befanden, die man zur Lederbearbeitung brauchen konnte. Wie alle ihre Geschwister hatte sie dies zum zehnten Geburtstag bekommen – das Handwerkzeug eines Harnischmachers. Und wütend hatte sie die Rolle hier gelassen, als sie später ihr Glück in der Flucht gesucht hatte.

Hinter sich hörte sie Schritte kommen.

„Sieh an, die Kleine. Was suchst Du?“

Rondriga drehte sich um. Vor ihr stand Kiranee, ihre älteste Schwester und inzwischen selbst auch Meisterin im väterlichen Gewerbe. „Ich brauche ein paar von meinen alten Sachen.“

„Ah“, entgegnete Kiranee in schnippischem Tonfall. „Willst Du jetzt doch endlich das Familienhandwerk erlernen?“

„Nein.“ Rondriga klang trotzig. „Aber man weiß nie, ob man das nicht unterwegs doch mal brauchen kann.“

„Unterwegs? Willst Du weg?“

Rondriga biss sich auf die Zunge. Verdammt, jetzt hatte sie mehr gesagt als sie wollte! Aber es gab nicht wirklich ein zurück. „Ja. Im Handwerk sollte man doch auf die Walz gehen, um anderswo dazuzulernen. Also tue ich das. Ich wollte schon immer mehr von der Welt sehen.“

„Jaja, dort wo Du bist ist es Dir ja eh nie gut genug“, höhnte Kiranee. „Und wo soll’s hingehen, wenn man fragen darf?“

„Darf man.“ Sie schwieg, als ob sie keine Antwort geben wolle. „Nach Gareth.“

Kiranee pfiff durch die Zähne. „Ei, bis nach Gareth. Perricum ist Dir wohl zu klein, was?“

„Hör auf. Es geht Dich nichts an, und verstehen würdest Du es sowieso nicht. Du kennst nur Leder und Blech. Aber wenn Du damit zufrieden bist, ist das Deine Sache. Ich bin es nicht. Und es ist meine Berufung; sagt auch Tante Khora.“ Sie steckte das Bündel in ihre lederne Umhängetasche.

Kiranee lachte bitter. „Wie immer Du willst. Soll ich Vater sagen, wo Du hin bist?“

„Ja. Er ist ja nicht hier, sagt Raban, sonst hätte ich es selber getan“. Damit drängelte sie sich an ihrer Schwester vorbei und marschierte hinaus. Kiranee folgte ihr kopfschüttelnd, stieg die Treppe hinab und begab sich zurück in die Werkstatt, derweil Rondriga und Shanna sich von den Kindern verabschiedeten und das Grundstück durch das Hoftor verließen.


Am nächsten Morgen brach sie auf. „Simias Segen auf all Euren Wegen“, sprach Tante Khora zum Abschied, und legte erst Rondriga, dann Shanna die ausgestreckten Finger ihrer Rechten auf die Stirn. „Kommt gut an und ebenso wieder zurück.“

Rondriga lächelte und umarmte ihre Tante zum Abschied. Nur ihr hatte sie das wahre Ziel der Reise verraten, von dem sie auch noch nicht wusste, was sie dort erwarten würde, doch dies war etwas Neues und entsprach nicht nur ihrem Naturell, sondern auch dem Wesen ihres Gottes. Ein Kloster St. Ancilla nahe Gareth, das würde sich finden lassen. Und wenn schon seine Gnaden Yacuban von Creutz-Hebenstreyt dorthin reisen wollte, musste es dort etwas interessantes geben; im Ingerimmtempel hatte sie etwas von geheimnisvollen Reliefstücken vernommen, als sich die Hochgeweihte Adara von Rabicum mit anderen Geweihten unterhalten hatte. Sie selber war als Geweihte des Ingerimmsohnes dort keine Unbekannte, was sie auch Onkel Olwyn zu verdanken hatte, ihrem zweiten Mentor nach Tante Khora – denn dieser war selber Diener des göttlichen Schmieds im Perricumer Tempel gewesen. Und so war ihre Neugier geweckt worden, diese Geheimnisse zu ergründen. Ein Abenteuer wartete auf sie, und sie verspürte eine Aufregung, ein Kribbeln in sich, wie sie es auch in den Tagen nach ihrer Flucht aus dem Elternhaus gespürt hatte.

Mit Shanna an der Hand schritt sie durch das Stadttor Perricums hinaus. Ein neuer Lebensabschnitt lag vor ihr – und einen alten sie ließ hinter sich zurück.