Geschichten:Wolfaran und Leonora - Selbst ist das Kind
Herzogtum Nordmarken, Elenvina, Mitte Peraine 1042 BF
Wolfaran betrat seine Kanzleistube für Eich- und Wägewesen in Elenvina, nachdem er die letzten Stunde in einer Besprechung bei der Reichsrätin Thalia von Eberstamm-Weidenhag verbracht hatte.
Die Tür stand zu einem Schlitz geöffnet und er konnte durch den Spalt seine Schwester Leonora entdecken. Ein Schmunzeln lag auf seinem Gesicht. Wie zwei scheue Rehe umgarnten sich sein Assessor Alrik Herdan von Ruchin und seine kleine Schwester. Jetzt schrieben sie sich schon seit zwei Götterläufen Liebesbriefe, doch keiner wollte den nächsten Schritt vollführen. Leonora war zu schüchtern und Alrik zu höflich.
Wolfaran durchschritt die schwere Eichentür. Leonora erschrak fast, als wäre sie In flagranti erwischt worden, um dann voller Freude ihrem Bruder um den Hals zu fallen. "Was machst Du hier in Elenvina, Kleines." Der Kanzleirat neckte sein Schwesterherz zu gerne.
"Hey, ich bin nicht klein. Mein Schwertvater hat etwas in Elenvina zu erledigen und ich durfte mit. Und wenn ich schon mal hier bin, dachte ich, ich besuche mal meinen großen Bruder." Während sie das sagte, blinzelte sie mit den Augen rüber zu Wolfarans Assessor. "Hast Du was von Mutter gehört? Wie geht es ihr?" Forsch wechselte Leonora das Thema.
"Sie ist über dem Berg, das ist das Wichtigste." Wolfaran druckste herum. Alrik Herdan nutzte die Gelegenheit und verabschiedete sich.
"Wolfaran, bitte sei ehrlich. Ich habe das Gefühl niemand möchte mich in Kenntnis setzen."
"Ich habe sie selbst noch nicht gesehen, erst bei der Belehnungsfeier werden wir sie zu Gesicht bekommen, daher kann ich nichts aus erster Hand berichten. Mit Rondred, Mutters Bruder, habe ich einen regen Schriftverkehr gewechselt und mit Vater natürlich. Vater hat mir aber nicht immer die Wahrheit gesagt, ich denke er will mich schützen, ich bin aber kein kleiner Junge mehr. Rondred sagt, dass es Mutter schlecht geht. Sie ist nicht mehr in Lebensgefahr, aber das Attentat hat sie schwer geschwächt."
Leonora schluchzte, während Wolfaran sie in den Arm nahm. "Ich habe so Angst, Wolfaran. Ich will nicht, dass sie stirbt."
"Sie ist über den Berg, sie braucht nur noch Zeit und Ruhe."
"Der Tikaris sitzt nur in Haft, warum musste er für sowas nicht hängen?", fragte Leonora erbost.
"Ich weiß es nicht, irgendwie scheint das was im Hintergrund zu laufen. Frag mich aber bitte nicht was."
"Mama ist so angeschlagen, wir müssen ihr doch helfen können. Sie ist so ganz allein in Wasserburg. Jemand muss sie doch schützen." sorgte sich die Knappin des Sindelsaumer Barons.
"Ach Leo. Ich bin da bei Dir. Vater steht ihr hoffentlich zur Seite, obwohl ich hörte, dass beide sich gestritten haben." entgegnete ihr Bruder.
"Vater ist auf den Tränen. Das ist viel zu weit weg, kannst Du nicht an ihre Seite gehen? Du bist der Ältere von uns." schlug Leonora vor.
"Daran habe ich auch schon gedacht. Ich bin aber hier in Elenvina gebunden. Vater bringt mich um, wenn ich hier alles stehen und liegen lasse und nach Wasserburg gehe. Ein solches Verhalten würde er mir niemals verzeihen." Wolfaran haderte mit sich selbst.
"Ach was machen wir denn bloß, uns muss doch etwas einfallen."
Wolfaran stockte in seinen Gedanken. Mit seiner Hand strich er Leonora durchs Haar. "Wie lange bist Du schon bei Baron Erlan?"
"Sieben. Sieben Götterläufe. Warum fragst Du?" Leonora konnte Wolfarans Gedankengang nicht folgen.
"Ich gehe heute Abend auf eine Feierlichkeit im Hause meiner Reichsrätin. Magst Du mich begleiten? Ich würde sie Dir gerne vorstellen."
"Ja, gerne. Du führst doch was im Schilde..." Leonora erkannte einen ungewohnten Unterton in Wolfarans Stimme.
Der wiederum druckste herum. "Sag schon, Wolfaran, was geht in Dir vor?"
"Was ist, wenn Du auf meinen Posten kommst? Dann wäre ich frei für Mutter."
"Ich bin noch ein Knappe, wie soll das gehen?"
"Ich war nur wenig älter als Du jetzt, als ich meinen Posten in Elenvina antrat. Meine Reichsrätin erhielt ihren Posten ebenfalls in sehr jungen Jahren. Ich möchte jetzt nicht gleich hingehen und ihr Dich als meinen Nachfolger vorstellen. Ich möchte, dass sie Dich kennen lernt und dann schauen wir, ob sich daraus was machen lässt. Versprich Dir aber nicht zu viel. Selbst wenn die Reichsrätin dem zustimmen würde, benötigen wir auch noch die Gunst Deines Schwertvaters, dass er Dir den Ritterschlag erteilt."
Leonora atmete aufgeregt. "Dann lass es uns versuchen. Du an Mutters Seite und..." Sie beendete den Satz nur in Gedanken - und ich an Alriks Seite - während ihr Augenpaar zur Tür schweifte, die Alrik vor kurzem verlassen hatte.
Wolfaran reagierte schnell und prompt auf die Situation. "Ich bin bis heute Abend leider voll verplant. Es ist schon Mittagszeit. Ich werde Alrik bitten, dass er Dir eine angenehme Taverne zeigt und Dich ein bisschen in Elenvina herumführt. Ich hoffe du verzeihst mir?" flunkerte Wolfaran.
Leonora quittierte seine Absage mit einem freudigen Lächeln.