Geschichten:Die Prophezeiung der Silberschwäne - Retos Ruf folgend
986 BF Burg Ox, Baronie Viehwiesen
Leomir von Ochs und seine Schwester Giselda standen auf den windgepeitschten Mauern von Burg Ox. Ihre Blicke wanderten über die majestätischen Gipfel des Raschtulswalls, deren schneebedeckte Spitzen in der Ferne glitzerten. Der kalte Wind umspielte ihren Umhang ihrer Reichsuniformen, die sie als treue Anhänger Kaiser Retos trugen. Leomir, ein glühender Anhänger Retos und treuer Gefolgsmann, hatte Kaiser Reto schon als Prinz zur Seite gestanden, als dieser seine dekadenten Anverwandten Bardo und Cella vom Thron stieß.
Leomir, der frisch ernannte Baron, blickte gedankenverloren in die Ferne, während seine Finger über die Zinnen der Mauer glitten. "Unsere letzte Aussicht auf den Raschtulswall vor der Abreise," murmelte er. "Es fühlt sich seltsam an, nun als Baron auf dieser Burg zu stehen. Vater und ich hatten nie das beste Verhältnis."
Giselda, die neben ihm stand und einen Stein über die Zinnen warf, nickte zustimmend. "Er war ein strenger Mann, Leomir. Ich habe ebenfalls oft mit seiner harten Hand gehadert. Aber jetzt zählt, dass du deinen eigenen Weg gehst." Sie hob den Blick zu ihrem Bruder und sah den Schatten der Vergangenheit in seinen Augen.
Die Geschwister waren beide in den Kaiserlichen Dienst getreten. Leomir war Obrist in der Artillerie der I. Maraskanischen Expeditionslegion, während Giselda als Fähnrich im leichten Fußvolk der II. Maraskanischen Expeditionslegion diente. Sie wussten, dass sie bald die Schiffe nach Maraskan besteigen würden, um sich dem Feldzug anzuschließen.
Leomir strich über das kühle Mauerwerk, als er weitersprach. "Mutter hat viel geweint, als wir ihr heute davon berichteten, während unsere kleine Brüder Wolfaran und Leobrecht zu uns aufgeblickt haben. Sie werden stark sein, so wie wir es sind."
Giselda, die einen weiteren Stein von der Mauer nahm und ihn in die Tiefe fallen ließ, lächelte schwach. "Ja, sie sorgen sich um uns, aber sie wissen, dass wir unsere Pflicht tun müssen." Ein Hauch von Sorge durchzog ihr Gesicht, als sie an die bevorstehende Reise dachte.
Leomir drehte sich zu seiner Schwester und sprach mit leiser Stimme weiter. "Nach dem Feldzug werde ich um die Hand der jungen Erlenstammerin anhalten. Sie hat mein Herz erobert."
Giselda senkte den Blick und druckste herum. "Die Schwester Adelmundes, ich hätte es mir denken können. Hedegar von Falkenstein hat mir den Hof gemacht und um meine Hand angehalten. Aber vor der Liebe kommt erst der Krieg." Ihre Stimme klang entschlossen, doch ein Hauch von Unsicherheit schwang mit.
Leomir zog ein altes, vergilbtes Schriftstück aus seiner Tasche und rollte es vorsichtig aus. "Diese Prophezeiung von Liora – wer auch immer sie war – deutet auf unsere Zukunft hin. Ich fand sie in Vaters persönlichem Hab und Gut."
Er zeigte auf die fünfte Prophezeiung und las vor: „Geschwister auf dem Throne, ein Ochs' sie mit verbannt, auf dass dort wieder wohne, der Götter segnend Hand. Geschwister dann im Felde, ein Eid sie ihm geschwor'n, sie werden dort zum Helde, ein Leben wird für ihn verlor'n.“
Leomir und Giselda sahen einander in die Augen, der Ernst der Worte lag schwer in der Luft. "Diese 'Geschwister auf dem Throne'," sagte Giselda nachdenklich, "das muss sich auf Bardo und Cella beziehen, die von ihrem Vetter vom Thron gestoßen wurden. Aber wer sind die 'Geschwister im Felde'?"
Leomir nickte langsam. "Es ist beängstigend, darüber nachzudenken, aber ich fürchte, dass diese Zeilen uns meinen könnten. Wir beide, die wir dem Kaiser im Feld dienen und einen Eid geschworen haben." Seine Stimme war ruhig, doch die Anspannung war spürbar. Giselda schüttelte den Kopf, während ihr Bruder weitersprach. "Einer von uns beiden wird nicht zurückkehren, wenn diese Prophezeiung korrekt ist."
Giselda legte eine Hand auf Leomirs Schulter und sah ihm fest in die Augen. "Leomir, das ist doch Unsinn. Diese Prophezeiungen sind nichts weiter als Humbug. Sie versuchen nur, uns Angst zu machen. Wir dürfen nicht zulassen, dass solche Worte unser Schicksal bestimmen. Egal, was passiert, Leomir. Wir werden unser Bestes geben. Für uns, für unsere Familie, für das Reich und für unseren Kaiser Reto."
Leomir legte seine Hand auf ihre und nickte. "Ja, für uns alle."
Die Geschwister standen still beieinander, und dann, ohne ein weiteres Wort, zogen sie sich in eine feste Umarmung. Die Wärme und der Trost der Umarmung boten ihnen einen Moment des Friedens inmitten der stürmischen Zeiten, die vor ihnen lagen.
