Geschichten:Garhilde von Gauternburg

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Der Ruf aus den Tiefen

Gauternburg, Ende Praios 1047 BF:

Der Nebel lag schwer über dem dunklen See, der sich rings um die Gauternburg erstreckte, sie nahezu umarmte im ewigen Griff. Schützend und erdrückend zugleich. Nur die fahlen Lichter der Pechfackeln auf den Wehrgängen durchbrachen das trübe Grau, während das seichte Plätschern des Wassers in der unnatürlichen Stille widerhallte.

Garhilde von Gauternburg stand am Fenster ihres Gemachs und ließ ihren Blick über die finstere Wasserfläche schweifen. Seit Wochen schon nagte die Schwermut an ihrem Herzen. Ihre drei Kinder waren nun fort – fort ihr eigenes Leben zu leben, fort aus ihrem Schoß, in dem sie sie so lange behütet hatte. Firutin, ihr Gemahl, ein unerschrockener und ehrenhafter Mann, schien ihr nicht mehr der gleiche zu sein wie einst, als ihre Kammern noch vom Lachen der Kinder erfüllt waren.

Und nun stand sie hier, allein, lauschend. Denn da war eine Stimme. Ein Ruf aus den Tiefen des Sees, aus dem dunklen Herzen des Reichsforstes. Nächte voller wirrer Träume hatten sie heimgesucht, Träume von kalten Fingern, die nach ihr griffen, von Stimmen, die in uralter Zunge flüsterten.

Die Worte waren kaum mehr als ein Hauchen über der Wasseroberfläche. Sie riss die Augen auf. Hatte sie es sich nur eingebildet?

Ein Schauder lief ihr über den Rücken, doch sie konnte sich nicht abwenden. Das Wasser lockte, zog an ihr.

„Garhilde!“ Die Stimme ihres Mannes ließ sie zusammenzucken. Firutin stand in der Tür, seine Stirn in Falten gelegt, Sorge und Ungeduld gleichermaßen in seinen Augen. „Was tust du da?“

Sie lächelte matt. „Lausche.“

„Lausche? Worauf?“ Er trat näher, wollte nach ihrer Hand greifen, doch sie entzog sich ihm.

„Sie rufen mich.“

„Niemand ruft dich, mein Herz. Es sind nur Trugbilder, die dein Kummer dir vorgaukelt.“

„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf, trat näher ans Fenster, ließ den Blick auf die düsteren Wassermassen sinken. „Sie sind dort unten. Sie warten auf mich.“

„Garhilde, hör auf damit!“ Sein Tonfall wurde eindringlicher, fast flehentlich – ein seltenes Zeichen von Verzweiflung bei einem Mann wie ihm.

Sie drehte sich zu ihm um, sah ihn an, sah die Furcht in seinem Gesicht. Doch es war zu spät. Die Schwermut war ein Fieber in ihrem Blut, und das Wasser versprach Heilung, Erlösung.

Dann stieg sie auf das Fenstersims.

„Garhilde! Nein!“

Sie sprang.

Der See verschlang sie, ohne einen Laut. Kein Schrei drang über die Wasseroberfläche, nur die leichten Wellen blieben zurück, als wäre nie etwas gewesen.

Firutin rannte die Wendeltreppe hinab, hinaus auf den Steg. Er rief ihren Namen, brüllte ihn hinaus in die Stille der Nacht, doch die Wasser blieben stumm.

Und tief unten, in den kalten Tiefen, öffneten sich blasse Arme und empfingen sie.