Geschichten:Yandara von Gauternburg

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Wehrturm Düsterwacht, Ende Rondra 1047 BF:

Schwer atmend schritt die über 90 Winter zählende Yandara langsam zum Turmfenster. Von hier könnte sie in der Ferne den Düstertann sehen, jener verfluchte Wald, der so manches düsteres Geheimnis barg. Die Tannwirker Praios-Kirche, die hier einem etwas eigentümlichen Glauben folgte, versuchte seit Jahrhunderten mit geweihten Wegschreinen, die sich wie eine Kette um den Düstertann wandten, dem dämonisch pervertierten Wald Einhalt zu gebieten. Doch auch sie hatte in den letzten Jahrzehnten ihren Teil dazu beigetragen, denn die Ritter der Düsterwacht trugen ein besonderes Schicksal.

Yandara spürte, dass ihre Zeit gekommen war. Zwar voller Lebenskraft bis ins hohe Alter, wichen ihr nun ihre Lebensgeister aus ihrem Körper. Die Frage, wen die Seligenfelder Junkerin als Nachfolgerin berufen würde, umtrieb die rüstige Alte. Yandara hatte zwei Kinder, beide auch schon im Herbst ihres Lebens. Heiltrud war bei den Waldsteiner Pikenieren auf der Feste Rallerwacht. Tankred war ein zu oft dem Bier zugeneigter Ritter, der schon zwei seiner drei Kinder zu Grabe tragen musste. Beide hielt Yandara für ungeeignet, hier auf der Düsterwacht zu wachen. Sie waren in ihren Augen nicht stark genug. Von ihren vier Enkeln hielt Yandara weitaus mehr. Isida war Landvögtin auf dem Rabenfels, Herdan dienender Ritter in der Grafschaft Reichsforst. Leomara und Leydane folgten dem Ruf der Leunin. Doch würden sie dem Ruf der Düsterwacht folgen? Isida war auf dem Rabenfels unglücklich verliebt und würde ihren Angebeteten nicht zurücklassen, obwohl dieser anderweitig verheiratet war und es keine Zukunft für die beiden gab. Herdan war glücklich verheiratet, doch sein Gemahl hatte Verpflichtungen auf dem heimischen Gut. Leomara und Leydane fielen aufgrund ihrer Weihe aus. Doch es oblag eh nicht in den Händen der Alten, wer ihr auf der Düsterwacht nachfolgen würde. So wandte sie sich ab und schritt langsam auf ihr Bett zu. Sie war müde geworden.


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In der Nacht wachte sie schweißgebadet auf. Bishdariel hatte sie in der Gestalt eines verwesenden Raben heimgesucht und Albträume gebracht, in denen sich die Finsternis erhob. Heerscharen von nachtschwarzen Vögeln waren in ihren Träumen aufgestiegen und hatten sich über die Menschen hergemacht. In der Ferne, in ihrem goldenen Nest, lenkte eine abgrundtief hässliche Gestalt, halb menschlich und doch mit Federn bewehrten Flügeln, die flatternden Heerscharen. Waren die Bilder, die sie gesehen hatte, nur Ausgeburten ihrer Fieberträume, oder kündeten sie von einem Wiedererwachen einer alten, dunklen Macht? Der Düstertann zog solche Kreaturen an, womöglich war sie gar einst aus dem Schoß des verfluchten Waldes entsprungen.

Aufgewühlt und voller Unruhe erleuchtete sie die Kerzen in ihrer Schlafkammer, spürend, dass der Sand ihrer inneren Sanduhr nahezu vollständig durchgerieselt war. Sie schleppte sich zu ihrem Schreibpult, nahm ihre Schreibfeder in die Hand, tauchte sie in ihr Tintenfässchen und wie im Wahn kritzelte sie das vor ihr liegendes Blatt Pergament voll. Sie wusste nicht, ob ihre Worte Sinn ergaben, doch sie musste ihre inneren Bilder für die Nachwelt verewigen.

Als sie den letzten Buchstaben zu Papier gebracht hatte, sackte sie erschöpft zusammen und Golgari trug ihre Seele übers Nirgendmeer.