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Version vom 14. August 2012, 08:14 Uhr
Garetien ist nicht nur das weltliche Herz des Reiches, es ist auch das Zentrum der Verehrung der Zwölfe. Zwar befinden sich die Haupttempel der meisten Kulte andernorts, doch kann sich Gareth nicht nur der Stadt des Lichts rühmen, sondern auch damit, als eine der wenigen Städte Aventuriens Tempel sämtlicher Zwölfe zu beherbergen. Perricum dagegen ist durch seine Löwenburg die standhafte Wehr des Königreiches. Auch der Schlund, das wichtigste Heiligtum des Ingerimm und jüngst Schauplatz weltumwälzender Ereignisse, liegt auf garetischem Boden. Kaum zu überblicken ist die Zahl an Tempeln in diesem Land, denn jedes Dorf, das es sich nur irgend leisten kann, wird sein eigenes Peraine-Haus unterhalten, um nicht auf die Geweihten aus dem Nachbardorf angewiesen zu sein.
Die Menschen wissen sehr gut, was sie den Göttern zu verdanken haben, und das nicht erst seit den letzten Jahren. Gleichwohl soll nicht verschwiegen werden, dass sich besonders in der Hauptstadt in den vergangenen Jahrzwölften eine gewisse Bequemlichkeit und Selbstgefälligkeit zu regen begann: nun, da man den Göttern diese prächtigen Tempel errichtet hatte, würden diese die Stadt wohl schon beschützen müssen. Dem wurde selbstverständlich von sämtlichen Geweihten heftigst widersprochen - die Tempel sind Dank der Menschen für alle bislang gewährte Gnade, und den Beistand der Götter muss man sich immer wieder neu verdienen. Spätestens seit der Nacht des Brennenden Himmels waren die eigensüchtigen Schwätzer verstummt, denn es war auch eine Prüfung für die wahrhaft Gläubigen, als manche Götter ihre Tempel den Flammen anheimfallen ließen - nach der Schlacht in den Wolken galt dies erst recht. Heutzutage ist die Verehrung der Zwölfe wieder so echt und tief wie eh und je.
Auf ihre Geweihten erstreckt sich diese Verehrung ebenso, wenn auch nicht völlig unbeschränkt. Der Garetier neigt zu phexgefälligen Spötteleien über alles und jeden, und davon bleibt auch der dörfliche Peraine-Priester nicht immer verschont. Es liegt für niemanden ein Widerspruch darin, Seine Gnaden respektvoll zu grüßen und im nächsten Atemzug einen kleinen Scherz über seine Glatze zu machen. Seine Gnaden wird das lächelnd zur Kenntnis nehmen - immerhin stammen fast alle Geweihten selbst aus der Gegend, in der sie wirken - und den Spötter zum nächsten Göttinnendienst einladen, "falls du mit deinem dicken Bierbauch noch durch die Tempeltür kommst".
Viele Geweihte sind in ihren Dörfern die wichtigsten Autoritäten, auf deren Rat Dorfschulze und Großbäuerin angewiesen sind. Kaum einer kann aber selbstherrlich schalten und walten, wie es ihm beliebt - wo es im weiten Umkreis keinen anderen Priester gibt, da ist das eigene Wort Gesetz, aber wo schon im Nachbarort die nächste Geweihte wohnt, da kann niemand seine eigene Auslegung der göttlichen Gebote zum Maß aller Dinge machen. Manch ein überstrenger Geweihter hat schon vor leeren Tempelbänken gestanden, weil seine Schäfchen lieber zu seiner freundlichen, warmherzigen Glaubensschwester fünf Meilen weiter pilgerten. Ähnliches kann auch der Tempelvorsteherin passieren, die für ihre einschläfernden Predigten berüchtigt ist - in Garetien lehren die Götter ihre Diener noch echte Demut, und keiner darf sich auf seinem Titel ausruhen. Wohl nur eine Anekdote ist aber die Geschichte von der Peraine-Priesterin, deren Predigten einen wunderbar erholsamen Schlaf hervorriefen. Die Frau nahm gelassen hin, dass niemand ihren Worten lauschte; nur einmal erzürnte sie - als das Schnarchen eines Besuchers alle übrigen zu wecken drohte.
Wo es für einen Tempel an Geld oder Platz fehlt, wird den Göttern ein Schrein errichtet. Die gibt es in allen Größen und Formen - vom überdachten Mauervorsprung an einer Hausecke in Neu-Gareth, auf dem eine Fuchsstatue über die Straßenkreuzung wacht, über das Travia-Standbild in der schrittbreiten Nische zwischen zwei Bürgerhäusern in Luring bis zum blumenbekränzten Bethaus auf dem Feld am Darpatufer. Fast ausnahmslos jeder Weiler hat eine kleine Kapelle, manchmal ist es auch nur ein doppelt mannshohes Holzgerüst, auf dem ein Storchennest prangt. Wo man sich keine eigenen Geweihten leisten kann, da bittet man die Priester im nächsten größeren Dorf, die segnenden Riten zu vollziehen.
Die Schreine werden meist vom ganzen Dorf errichtet und unterhalten. Um letzteres ranken sich oftmals lokale Bräuche; mal muss die junge Braut die Kapelle neu mit Blumen schmücken, anderswo sind die Junggesellen vor dem Saatfest für den Neuanstrich verantwortlich. In den Städten sind viele Schreine von reichen Bürgern gestiftet worden, meist aus Dankbarkeit oder mit frommen Wünschen versehen. Fast alle sind Travia oder Phex gewidmet, auch Tsa und Ingerimm sind häufiger vertreten. Wer keinen ganzen Schrein bezahlen kann, der schmückt einen bereits bestehenden mit einem weiteren Götterbild oder anderen Gaben.
Verziert sind die Kapellen meist mit einer Statuette oder einem anderen Abbild des jeweiligen Gottes. Lokale Heiligenkulte - von den Priesterkaisern gnadenlos ausgemerzt - sind in Garetien noch heute eher die Ausnahme, obwohl jeder hier Geschichten über besonders göttergefällige Menschen aus seinem Heimatort zum Besten geben kann. Nur in den Zünften hat sich eine Verehrung eigener Heiliger gehalten oder neu entwickelt. Eine gewisse Bewunderung wird auch Lebenden zuteil, die in der Gunst der Götter zu stehen scheinen: eine Frau, die nach einem Gebet am Tsa-Schrein tatsächlich schwanger wird, kann sich vor Geschenken für das Kind kaum retten. Auch wenn die Gaben von Herzen kommen, ein wenig wird die Hoffnung mitspielen, durch die Großzügigkeit selbst das Wohlwollen der Göttin zu erlangen. Der Schrein wird in den nächsten Monden auch von Betenden aus den Nachbardörfern benutzt werden, denn seine "Wirksamkeit" spricht sich rasch herum.
Die vergangenen Jahrhunderte haben es gezeigt, die letzten Jahre haben es - allen Widrigkeiten zum Trotz - bekräftigt: Das Herz des Reiches steht unter dem Schutz der Götter.
(O. Baeck)
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